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Welt ohne Bürger

Wo Meinungsfreudigkeit und Sprachzerfall zusammenkommen, da entsteht immer häufiger ein Blog. Doch auch die Kritiker des Web 2.0 sind längst dessen eigenes Produkt.

Von Magnus Klaus

Als es noch Kosenamen gab, offenbarten sich Banalität oder Substantialität einer Beziehung in der idiomatischen Färbung der Worte, welche die Menschen füreinander fanden. Die Intention aufs Besondere, die Kosenamen innewohnt, mußte dabei nicht mit Originalität einhergehen. Im Gegenteil verfehlt allzuviel Bemühen um Originalität das Individuum, dem der Kosename gilt. Originalität ist etwas anderes als Phantasie: Sie will sich gegen alles Dagewesene abgrenzen und folgt blind dem Konkurrenzprinzip, über das sie sich erhaben dünkt. Phantasie dagegen entzündet sich am Überkommenen, Allzubekannten, um es zum Kristallisationspunkt individueller Erfahrung zu machen. Wie sich für jeden geliebten Menschen mit märchenhafter Leichtigkeit ein Tierbild finden läßt, müssen Kosenamen nicht erfunden werden, sondern liegen gleichsam am Wegesrand und warten darauf, daß einer sie aufhebt.

Die Nicknames, die sich die postmodernen Kommunikationsteilnehmer geben, um an der zum Diskurs konvertierten globalen Gerüchteküche zu partizipieren, sind die einstweilen letzte Verfallsform der Kosenamen. Ihre Vorgänger waren die Spitznamen, denen im Gegensatz zum Kosenamen bereits etwas Rabiates eignet. Schon der Bezeichnung nach spielt der Spitzname auf die Häme an, die in jeder Verniedlichung mitschwingt: Jemanden klein zu machen, auch wenn es aus Zuneigung geschieht, bedeutet potentiell immer auch, ihn kleinkriegen, zum Exemplar erniedrigen zu wollen. Der Spitzname ist ein spitzer Name, der denjenigen, auf den er zielt, runtermachen oder festnageln will. Der Kosename dagegen wahrt Distanz und sucht die Gewalt der Grenzziehungen zu mildern, die notwendig jeden sozialen Austausch bestimmen. Kosenamen gehören zu einer Sprache der Intimität, die sich an spezifische Züge der Person heftet, von denen sie nicht zu lösen ist. Spitznamen dagegen sprechen bereits im Namen des Kollektivs, indem sie eine vom Individuum abgezogene, zu dessen Markenzeichen geronnene Besonderheit für die ganze Person nehmen. Im Nickname, dem jeder spezifische Bezug aufs Gegenüber abhanden gekommen ist, weil man ihn nur sich selbst geben kann, wird dieses Prinzip zur Vergesellschaftungsform erhoben: Ein möglichst abseitiger oder unsympathischer Zug der eigenen Person, oder auch nur eine aus Willkür geborene fixe Idee, wird zum Namen für ein Prinzip erhoben, als dessen Verkörperung man seinen ganz persönlichen Amoklauf durch die virtuelle Welt starten kann. Der Ruch des Unseriösen, der dabei notwendigerweise aufkommt, ist Bestandteil des Programms. Er indiziert die Verwandlung von kommunikativem Streit in isoliertes Ego-Shooting, von individueller Urteilskraft in ein Mittel zur Feindabwehr. Und mein Feind jeder, der eine andere Meinung hat als ich.

In den Blogs und Foren des Web 2.0 kommen Affekte zu sich selbst, die im bürgerlichen Zeitalter von der Institution des Leserbriefs noch halbwegs im Zaum gehalten wurden. Obwohl seit jeher privilegierter Ort unappetitlichen Geifers und Ressentiments, gelang den Leserbriefseiten der großen Journale doch mitunter das Kunststück, den blinden Volkszorn, die penetrante Besserwisserei und den peinlichen Dilettantismus, der sich auf ihnen Bahn brach, im besten Sinne zu moderieren, nämlich mit den Ansprüchen des Realitätsprinzips zu vermitteln und so auf ihren notwendig subalternen Platz zu verweisen; der Leserbrief verhielt sich zur Zeitung wie das Bürgerbüro zur parlamentarischen Demokratie. In den anglo-amerikanischen Ländern, wo dem freien Tausch der Argumente als Garant einer lebendigen Öffentlichkeit traditionell höhere Achtung gezollt wird als hierzulande, sind Leserbriefe bis heute unverzichtbarer Bestandteil des Markts der Meinungen, der dort allerdings Spinnern, Irrsinnigen und Dummschwätzern weitaus häufiger die ihnen gemäße Nischenexistenz verschafft, statt sie, wie in der deutschen Basisdemokratie üblich, sogleich an die Spitze einflußreicher pressure groups zu spülen. Während der anglo-amerikanische Leserbriefschreiber, wenn er seine Absonderlichkeiten an die Öffentlichkeit bringt, deren Medien dafür schätzt, daß sie ihm die Möglichkeit gewähren, noch den krudesten Unsinn unter ihrer Obhut zu verbreiten, sie also tatsächlich als vierte Gewalt achtet, die auch das ihr Widersprechende duldet, zeichnet sich der deutsche dadurch aus, daß er seine Zeitung, an der er klebt wie die Fliege am Fliegenpapier, zugleich aus tiefstem Herzen haßt. Gegen jede Evidenz ist er überzeugt, es besser machen zu können als die Schreiberlinge, deren Urteilskraft allein schon durch die Tatsache korrumpiert sei, daß sie bezahlt werden. Daß sogar mediokre Gestalten wie er von der Journaille mitunter Platz eingeräumt bekommen, deutet er nicht als Indiz für deren Liberalität, sondern als Ausdruck böser Absicht: Wer Klartext rede, werde in die Leserbriefspalten abgeschoben, während sämtliche Ressorts nichts als Manipulation verbreiteten. In Wahrheit ist mit dem Niedergang der bürgerlichen Institutionen der Unterschied zwischen Leserbriefen und Zeitung längst eingeebnet worden. Die Kulturelite weiß sich mit dem verhinderten Lynchmob, der sich in jenen austobt, gleichen Sinnes und verachtet sich selbst dafür, daß sie ihn formell bändigen muß.

Im Web 2.0 wird mit diesem Widerspruch aufgeräumt. Wahrte der Leserbrief, der an die Herausgeber adressiert, mit bürgerlichem Namen unterschrieben und mit Anschrift des Verfassers versehen ist, durch seine bloße Form noch die Grenze zwischen Leserschaft und Autorschaft, die sich auf dem Forum der Öffentlichkeit begegnen und miteinander streiten können, ohne daß ihre sozialen Rollen verschmelzen, so exekutiert die Blogger- und Forenkultur die schlechte Aufhebung des Gegensatzes von Autoren und Lesern, Produzenten und Rezipienten in einer Gemeinschaft potentieller Denunzianten, deren wichtigste "Medien" das Gerücht, die Kolportage, die Bespitzelung und die von jedem rationalen Interesse losgelöste Meinungsmacherei sind. Indem jeder Leser zum Autor und jeder Autor zum Leser seiner Leser wird, etabliert sich ein unerbittliches Kontrollregime, das jeden zu sofortiger Antwort verpflichtet und in prompter Reaktionsbereitschaft hält. Keine Wortäußerung darf mehr stehengelassen werden, wie sie ist, jede muß im Moment ihrer Entstehung bereits von der einschlägigen "Community" zerpflückt, beredet und weitergereicht werden. Kein Autor kann sich mehr als verantwortlicher Urheber eines Textes, der für sich selber spricht, hinter diesen zurückziehen, sondern jeder muß permanent bereit sein, ins Meinungsgefecht einzutreten, sich zu verteidigen oder anzugreifen, Position zu beziehen oder Konzessionen zu machen. Niemand bestimmt sich mehr über die eigene, wenngleich fehlbare Urteilskraft, sondern immer nur über die Ad-hoc-Urteile, die von anderen nach Maßgabe von Zufall und Willkür über ihn ergehen. Entscheidend für die Beurteilung einer Äußerung ist nicht mehr deren Sinngehalt, sondern ihre akzidentielle Wirkung, die "Antworten", die sie auslöst, oder die Anzahl der "Gefällt mir"-Daumen, die sie erhält.

Daß es bei alldem nicht um die Entwicklung immens avancierter Kommunikationsformen geht, sondern um den organisierten Rückbau der sprachlichen Möglichkeiten auf das Niveau stumpfsinnigster Selbsterhaltung, wird unmittelbar deutlich an dem einschlägigen Vokabular: Das "Global Village", als das die Internetgemeinde zur Zeit ihrer Expansion gepriesen wurde, ist tatsächlich keine Agentur des Kosmopolitismus, sondern eine universal expandierende Dorfgemeinschaft, die nach Kommunikationsprinzipien funktioniert, wie sie sich in jedem x-beliebigen süddeutschen Kaff oder dessen urbanem Komplement, dem "Kiez", tagtäglich studieren lassen. Hier wie dort selektiert man anhand gemeinsamer Vorlieben und Ressentiments seine "Freunde", gründet Fangruppen und Freizeitclans, informiert sich per Mundpropaganda über anstehende Events und Feierabendpogrome und achtet bei jeder Äußerung genau darauf, wer sie mithören kann und wer nicht. Hier wie dort gilt das Gesetz der Bandenbildung, der Patronage und der kollektiven Heimlichtuerei, und was auf dem Lande Klüngelei heißt, nennt sich im globalen Dorf "Networking". Das so urteilslose wie bornierte Schwatzgebräu, für das es im deutschen Sprachraum nicht zufällig von Schnacken bis Babbeln einen ungeheuren Reichtum an Mundartausdrücken gibt, heißt im 2.0-Sprech "Twittern", und mit der Technik des "Following" - dem gezielten "Verfolgen" der Äußerungen ausgewählter Kommunikationsteilnehmer - kann jener Affekt, der sich früher im wachsamen Auge auf den Nebenmenschen äußerte und als "Nachbarschaftshilfe" zu drapieren pflegte, als "Informationsbedürfnis" verharmlost oder zur irgendwie linken "kollektiven Praxis" geadelt werden. So reproduzieren sich in jenem Bereich, der einst als bürgerliche Öffentlichkeit in Widerspruch zur Sphäre des Privaten stand, die Regressionserscheinungen eines verspäteten Großfamilienwesens, das den Zerfall der bürgerlichen Sozialität nutzt, um auf globaler Ebene vorbürgerliche Clanstrukturen, "Netzwerke" und "Freundeskreise", ins Recht zu setzen. Das globale Dorf ist die schmähliche Parodie der Weltbürgergesellschaft, deren Idee es verrät.

Die Restbürger, die dieser Entwicklung zusehen, um über sie zu räsonieren, sind freilich längst selbst gezeichnet von der geistigen Stumpfheit, die nicht dem neuen Medium unmittelbar entspringt, sondern den Verhältnissen, in denen es aufkam. Neben den debilen Euphorikern, die, um nur ja nicht in den Verdacht des Kulturpessimismus zu geraten, jede technische Neuerung als wichtigen Schritt auf dem Weg zur Kulturrevolution abfeiern und noch die evidentesten Verblödungssymptome als Ausdruck aufgeklärten Massenbewußtseins zu deuten wissen, machen seit einiger Zeit vor allem zwei Fraktionen auf sich aufmerksam: die postseriösen Akademiker und die autochthonen Handwerksmeister. Erstere mühen sich unter Zuhilfenahme von Graphiken, Statistiken und Tabellen sowie mittels eines Sachlichkeit suggerierenden BWL-Jargons ab, die Mischung aus Unernst, Mobbing und losgelassenem Blödsinn, die drei Viertel der neuen Kommunikationsformen ausmacht, als höchst komplexe und ambivalente Fortsetzung eines ins Endlose prolongierten "Strukturwandels der Öffentlichkeit" auszugeben. Ihre Elaborate sind öde, geistlos und redundant, empfehlen sich jedoch all jenen als Lektüre, die eine ebenso steile wie triste Karriere als "Kommunikationsdesigner" oder "Medienpädagoge" anstreben. Die zweite Fraktion verdient ihr Geld damit, die Internetkultur als Produkt von Stümpern und Amateuren zu denunzieren und sich selbst demgegenüber als bodenständige Alternative zu empfehlen - nach dem Motto "Der kann noch schreiben, der hat's gelernt". Ihre Texte sind schwülstig, großspurig und, bei allem Lamento über den Niedergang der Kultur, das beste Beispiel für die Sprechblasenrhetorik des Web 2.0. Sie darf nicht übergehen, wer eine Existenzgründung als professioneller Kulturkritiker erwägt. Damit läßt sich durchaus Geld machen, und ein krisensicherer Job ist es auch. Für Interessenten beider Branchen hält die Redaktion je ein Wunschbuch parat.

Gesine Boesken: Literarisches Handeln im Internet. Schreib- und Leseräume auf Literaturplattformen. UVK, Konstanz 2010, 290 Seiten, 29 Euro

Andrew Keen: Die Stunde der Stümper. Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören. Aus dem Englischen von Helmut Dirlamm. Hanser, München 2008, 248 Seiten, 19,90 Euro

Magnus Klaue unternahm in KONKRET 8/10 einen Rundgang durch die Welt der Glücksforschung

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