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Wir leben im Krieg

Ein exemplarisches Flüchtlingsschicksal: Der zur Zeit in Deutschland lebende Syrer Mohammad A. erzählt von seinem Horrortrip in die EU.

Es ist nicht so, daß mein Leben in Syrien einfach gewesen wäre. Ich hatte ein dickes Fell. Eine meiner Messernarben, knapp neben dem Herz, habe ich, weil ich einen Gleichaltrigen fast getötet hätte, und zu Hause konnte ich schon deshalb nicht bleiben, weil ich ständig Auseinandersetzungen mit der Polizei hatte. Das war mein tägliches Brot, anders hätten wir nicht überlebt: Die Geschäfte auf dem Schwarzmarkt, in die mangels legaler Jobs fast jede Familie verwickelt ist, sind hart umkämpft. Ich mußte die Abnehmer meiner Ware, ob es Brot oder Autoreifen waren, gegen andere Händler verteidigen. Aber erst am Evros-Fluß, an der Grenze zur EU, habe ich wirklich begriffen, daß mein Leben nichts wert ist.

Es war Anfang 2010, ich war gerade 25 Jahre alt und stand bis zu den Knien im pechschwarzen Wasser. Vor mir wateten 17 weitere Flüchtlinge bei Temperaturen um null Grad durch die Nacht in die Richtung, die der Schleuser uns gewiesen hatte. Wir wollten ein Boot erreichen, das uns nach Griechenland bringen sollte. Es schneite – mein erster Schnee. Hinter mir hatte ein 14jähriger Somalier einer Frau ihre etwa sechsjährige Tochter abgenommen und versuchte, zu uns aufzuschließen. Ich trug ihre Taschen. Mehrere hundert Meter hinter uns kämpfte sich der älteste der Flüchtlinge, ein etwa 70jähriger Syrer, durch den Fluß. Ein Schleuser ging vor ihm her und zog den Alten, brüllte ihn an und trat ihn, wenn er wieder in das seichte Wasser gefallen war. Ich hatte mich umgewandt, als das Gebrüll verstummte, ebenso der Junge hinter mir. Das Mädchen auf seinem Arm sah mich direkt an, als der Schleuser langsam die Pistole auf den knienden Alten richtete und abdrückte, sich dann umdrehte und mit einer Handbewegung zu verstehen gab, daß es weiterging.

Mein Heimatort Daraa in Syrien liegt nahe der Hauptstadt Damaskus. Eine Alternative zum Auswandern gab es für mich nicht, für eine Ausbildung fehlte das Geld, und mit 21 war ich längst in die informellen Strukturen, politischen Aktivitäten und die damit verbundene Gewalt verstrickt. Unsere Kämpfe waren soziale Kämpfe. Anders als unsere Eltern, die sich auf politischer Ebene mit dem Assad-Regime auseinandergesetzt haben, haben wir einfach angegriffen: die Polizei, die Mafiosi auf den Märkten. Daß wir nicht alle gewerkschaftlich organisiert waren, verschafft uns neue Probleme bei der Anerkennung des politischen Asyls in Westeuropa. Ich war in der Gewerkschaft, aber nur, weil mein Vater das veranlaßt hatte. Was nützt die Gewerkschaft, wenn keiner einen Arbeitsplatz hat? Wir hatten keine Probleme mit Arbeitgebern, weil wir keine Arbeitgeber hatten. Wir hatten Probleme mit dem freien Markt, mit der Händlermafia, deren Teil wir waren, und mit der Geheimpolizei, die alles in Syrien unter Kontrolle hat.

Jetzt, im Sommer 2011, ist Daraa eines der Zentren des Widerstands; die Demonstrationen hat das Militär immer wieder niedergeschlagen. Die Stadtgrenzen sind abgeriegelt. Etwa 20.000 sind seit Wochen in den Sportarenen eingesperrt, unter ihnen einer meiner Brüder. Mein Onkel wurde am 12. Juni schwer verletzt, als das Militär mit Panzern die Kundgebungen stürmte und Demonstrierende erschoß. In meinem Bezirk, in dem nur meine Mutter und ein Bruder zurückgeblieben sind, gibt es seit Wochen keinen Strom und kein Wasser.

Als ich den Evros erreichte, hatte ich schon einige Monate in der Türkei verbracht und davor jeweils ein Jahr in Dubai, den Emiraten und in Saudi-Arabien gearbeitet, immer in der Hoffnung auf eine Bürgschaft meiner Arbeitgeber, die mir die Reise zu meinem Bruder nach Deutschland ermöglichen würde. Sie hielten ihre Versprechen nicht. Mit Migranten wie mir aus den ärmeren arabischen Gebieten errichten reiche Staaten wie Dubai ihre Metropolen. Häufig verweigern sie die Bezahlung und halten die Arbeiter mit der Aussicht auf eine Bürgschaft in Schach. Meinen Paß mußte ich bei jedem Job abgeben, damit ich mich nicht vorzeitig, also bevor sich mein Arbeitseinsatz gelohnt hatte, absetzte.

Aus Saudi-Arabien war ich nach Syrien zurückgekehrt und noch im selben Jahr an die griechische Grenze gereist. Vor mir lagen noch fast 3.000 Kilometer innerhalb der EU, und der Mord am Evros war nur eine Episode in dem Horrorfilm, der mich mein Leben lang begleiten sollte.

Kurz nach meiner Ankunft in Athen verhaftete man mich zusammen mit anderen Flüchtlingen bei einer Razzia in einem abbruchreifen Haus. Obwohl alle bei der Festnahme ruhig blieben, prügelten die Polizisten auf uns ein. Sie hörten erst auf, als sie uns in eine Zelle gebracht hatten, in der schon acht Leute saßen. Nach zwei Nächten ohne Essen und ohne Schlaf wurde ich entlassen – ohne irgendeinen Anhaltspunkt, wohin ich mich wenden könnte.

Kurz darauf habe ich Athen zum ersten Mal verlassen. Ein Lkw brachte uns zur serbischen Grenze. Einen Kilometer vorher ließ uns der Fahrer aussteigen und zeichnete eine Landkarte, die uns den Weg weisen sollte. Wir waren zu viert: ein Iraker, zwei Männer aus Bangladesch und ich. Keiner von uns war älter als 25. Als wir ausstiegen, begann es bereits zu dunkeln, und Regen setzte ein, der am Boden gefror. Wir mußten einen kleineren Fluß durchqueren. Hinter der Grenze wartete der Fahrer und brachte uns weiter bis zur ungarischen Grenze. Wir wußten nie genau, wo wir waren, und mußten uns auf die knappen Angaben des Fahrers verlassen, der nur Tschechisch sprach. Wir schliefen, wenn wir konnten, verloren das Zeitgefühl und schreckten auf, wenn der Lkw stoppte oder Stimmen zu hören waren.

Ich hatte seit meiner Abreise zehn Kilo verloren. Während der Fahrt durch Griechenland und Serbien gab es kaum etwas zu essen. Der Fahrer konnte in seinen Pausen nur wenig mehr als für sich selbst kaufen, um nicht aufzufallen. Uns wurde klar, daß die Grenze und die Kontrollen nur ein Problem waren – das andere waren die Bewohner der Staaten, die wir durchquerten. Besonders an den Raststätten und Tankstellen mußte der Fahrer vorsichtig sein. Immer könnte jemand Verdacht schöpfen und sich etwas dazuverdienen, indem er unseren Lkw meldete. Aussteigen war ebenfalls unmöglich; schon hier in Serbien fielen wir auf: An unseren schwarzen Haaren und unserer Haut, aber auch an unserer abgewetzten Kleidung und dem geschwächten Zustand konnte uns jeder sofort als Nonresidents erkennen. Wie sollte das erst in Deutschland werden?

Kurz vor der ungarischen Grenze stießen wir zu einer größeren Gruppe von etwa 20 jungen Menschen. Wir warteten in einem Wäldchen, bis es dunkel wurde, und gingen dann zu Fuß los. Wir erreichten die Grenze, wurden aber in Ungarn erwischt, weil sich einer der Jungs eine Zigarette anzündete. Ich erhielt Gelegenheit, mich vor Gericht zu äußern, handelte meine Strafe auf 50 Euro herunter und wurde mit Papieren für einen dreitägigen Aufenthalt und der Aufforderung entlassen, nach Athen zurückzukehren. Wenige Tage später versuchten wir erneut, über die Grenze zu gehen. Diesmal begann die sechs Monate alte Tochter einer Frau aus unserer Gruppe dabei zu weinen. Plötzlich wurden die Flutlichtanlagen ausgeschaltet und kurz darauf wieder eingeschaltet, und im gleißenden Licht standen um uns die serbischen Grenzer.

Uns vier, die bereits in Ungarn geschnappt worden waren, holten die Wärter nach wenigen Stunden aus den Zellen und prügelten uns mit Stöcken und Gewehrkolben halbtot. Dem Iraker kugelten sie die Schulter aus. Verwundet, wie wir waren, warfen sie uns wieder in die Zelle mit neun bis zehn weiteren Flüchtlingen. Das Gefängnis war voll von uns. Jedes Wort, das wir an die Wärter richteten, wurde mit Prügel bestraft, jede Forderung mit noch mehr Prügel. Wir bekamen einmal am Tag eine wäßrige Suppe und etwas Brot. Wir magerten weiter ab und verloren die Lust am Widerstand. Irgendwann packten uns Grenzpolizisten in einen fensterlosen Transporter, der mehrere Stunden durchs Land kutschierte. Schließlich prügelten uns die Polizisten ins Freie. Da Mazedonien, sagten sie, da Kroatien – sucht es euch aus. Fassungslos standen wir im etwa fünf Zentimeter hohen Schnee, um uns nur Felder, Wälder und Berge, und sahen dem Transporter nach, der über den Feldweg davonruckelte.

Nur Ismael aus dem Irak und ich zogen gen Mazedonien los, die anderen in Richtung Kroatien. Am meisten Angst hatte ich vor den Bären. Daß zudem die Menschen in Mazedonien gefährlich sein können, hatte ich gehört: Auch dort gab es kaum eine normale Lebensgrundlage, und viele mußten sich so durchschlagen, wie ich es in Daraa getan hatte. Obwohl wir die Dunkelheit abwarteten, dauerte es keine zwei Stunden, bis uns die ersten Banditen noch in Serbien ausnahmen. Schon die Polizei hatte etwas von dem in meinem Jackenfutter eingenähten Geld gefunden, diese Räuber fanden auch das in meinen Schuhen. Den Ring meiner Verlobten entdeckten erst die Banden hinter der mazedonischen Grenze, bis heute hat sie mir das nicht verziehen. Die Männer ließen uns in Unterhemd und Jeans bei minus acht Grad weitergehen, nachdem sie uns noch einmal zusammengeschlagen hatten. Ismaels Schulter war inzwischen grün und gelb, und er erbrach sich regelmäßig. Gegen Mitternacht hörten wir in der Entfernung einen Zug fahren und stolperten in die Richtung, bis wir die Schienen erreichten. Wir folgten ihnen bis zu einem Dorfbahnhof und versteckten uns. Es dauerte bis zum nächsten Abend, bis ein Zug einfuhr; anders als wir gehofft hatten, war es kein Güterzug, sondern ein Personenzug. Es gelang uns, uns unbemerkt auf den letzten Wagen zu schwingen. Natürlich flogen wir bei der nächsten Fahrkartenkontrolle auf.

Polizisten brachten uns getrennt in Personalabteile. Mir legten sie Handschellen an, bevor sie mich einschlossen. Ich verstand nicht, was sie zu mir sagten. Beim nächsten Halt in der Einöde warfen sie mich aus dem Zug, ich sah mich nach Ismael um, konnte ihn aber nirgendwo sehen. So schlich ich um den Zug herum und kletterte wieder hinein. Viermal erwischten mich die Polizisten, und viermal sprang ich wieder auf. Beim letzten Mal versuchte einer, mich aus dem fahrenden Zug zu stoßen. Ich klammerte mich an die Tür. Zu zweit traten sie nach mir, bis der eine die Lust verlor und ich den anderen anbrüllte: »Ich gehe hier nicht raus, wenn, dann gehst du!« Er kann mich nicht verstanden haben, ließ aber von mir ab und erklärte mir in englischen und griechischen Brocken, daß ich den Zug freiwillig beim nächsten Halt verlassen sollte.

Als ich dann tatsächlich ausstieg, blieb ein Mitreisender hinter dem Bahnhofsgebäude stehen und winkte mir kaum sichtbar zu. Unsicher, ob ich ihn richtig verstanden hatte, folgte ich ihm mit einigem Abstand, bis wir ein Haus am Ortsrand erreichten. Er winkte mich herein. Wir sprachen den gesamten Abend kein Wort. Ich konnte zuerst nur wenig von dem essen, was mir seine Frau anbot. Am nächsten Tag versorgte mich der Mann mit Geld und einem handgeschriebenen Zettel, den ich vorzeigen sollte, wenn ich kontrolliert wurde.

Ich landete wieder in Athen. Der Schock saß tief, und meine Verletzungen heilten ohne Versorgung nur schlecht. In einem zweiten Anlauf nach einigen Wochen schaffte ich alle Etappen von Athen über Bulgarien, Rumänien und Ungarn bis in die Tschechische Republik. Einen Asylantrag stellte ich in Köln und gab an, daß ich per Schiff gekommen sei und die EU in Deutschland erstmals betreten hätte, um der Rückführung zu entgehen.

Meine Ankunft in Köln war für meinen Bruder, der mich in Empfang nahm, sehr schwierig. Damals habe ich ihn kaum verstanden, als er mich zwar erleichtert in die Arme nahm, aber fast hektisch ins Haus schob. »Was?« dachte ich. »Wir haben all das überstanden! Jetzt ist alles vorbei! Ich bin am Ziel!« Das war ich nicht. Aber wie sollte er mir das beibringen? Das erste, was er sagte, als ich mich aus seiner Umarmung löste, war: »Gib mir dein Telefon.« Mit den Nummern der zurückgelassenen Freunde in Athen, Istanbul, Daraa, mit der Nummer meiner Freundin ... Ich gab es ihm, ohne zu zögern. Es ist nicht vorbei, wußte ich da.

Der Haß, der mir von den meisten Deutschen entgegenschlägt, überraschte mich nicht. Auch die weißen Frauen, die soviel Interesse an meinem »schönen, wilden« Bruder zeigten, haben ihn gehaßt. Ihre Familien haben uns beschimpft, und wenn er sich zurückzog oder wehrte, riefen sie die Polizei oder telefonierten mit der Ausländerbehörde: Er sei gewalttätig oder ich illegal. Dabei bin ich geduldet und habe sogar die Erlaubnis, an einer bestimmten Arbeitsstelle zu arbeiten. Der Polizei war das egal, sie inhaftierten mich nach jeder Denunziation.

Ich erzähle keinem Deutschen in meinem privaten Umfeld mehr von meinem Status oder meinen Problemen, auch nicht in irgendwelchen Beratungsstellen. Wir haben es aufgegeben, den Deutschen gefallen zu wollen. Wir leben im Krieg, und sie führen den Krieg gegen uns, nicht gegen unsere Staaten.

Ich habe niemandem je etwas von meiner Reise erzählt. So wie mir, bevor ich Syrien verließ, niemand erzählt hat, was auf mich wartete, obwohl jeder meiner Freunde, der in den letzten zehn Jahren Deutschland erreicht hat, sicher ähnliches erlebt hat. Sie wollen nicht darüber reden. Daß sie Bescheid wissen, merke ich aber, wenn sie plötzlich aufhören zu reden. Und wenn sie wie ich sogar Freude daran haben, daß ihre Verlobte sie wegen eines gestohlenen Rings monatelang ignoriert – weil sie von all dem glücklicherweise nichts ahnt.

– Protokoll: Ann Löwin –

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