02.01.2017 15:42
Regie: Rachel Lang; mit Salomé Richard, Claude Gensac; Belgien/Frankreich 2016 (Film Kino Text); 94 Minuten; seit 29. Dezember im Kino
Ana, die Protagonistin von Rachel Langs Spielfilmdebüt »Baden Baden«, ist so etwas wie die Anti-Amélie. Zur Erinnerung: Audrey Tautou spielte 2001 in Jean-Pierre Jeunets irritierend überschätztem Machwerk »Die fabelhafte Welt der Amélie« die Kindfrau Amélie Poulain, die eine klinisch-reine Märchenversion des Pariser Viertels Montmartre bewohnt. Mit rehäugiger Naivität schwebt sie durch ihr Reich und etablierte so ein unsäglich niedliches, »quirky « Frauenbild, das seitdem aus vielen Independent-Komödien weltweit nicht mehr wegzudenken ist.
Rachel Lang und ihre grandiose Hauptdarstellerin Salomé Richard tappen nicht in diese Falle. Zwar geht es auch in »Baden Baden« um die Liebesgeschichten einer jungen Frau Mitte 20, die nicht so recht erwachsen werden will und die eine gewisse träumerische Aura umweht; im Gegensatz zu Amélie aber bewohnt Ana eine realistischere, oft ernüchternde Welt und reagiert auf diese Realität mal charmant, mal dickköpfig, mal auch einfach nur trotzig oder genervt. Eben mehr wie ein Mensch als wie eine Märchenfigur.
Der Film beginnt mit einer etwa fünfminütigen Einstellung: Ana chauffiert als Praktikantin eine Schauspielerin an ein Londoner Filmset. Sie hat sich verfahren, ist viel zu spät und wird nach ihrer Ankunft von dem machohaften Regisseur gnadenlos abgekanzelt. Man erwartet von dieser selbstbewusst wirkenden Frau eine nonchalante Antwort auf die Tirade – die bleibt aber aus: Den Tränen nahe lässt sie die Wutrede über sich ergehen. Eine unerwartete Reaktion folgt erst einige Szenen später: Ohne dass der Film viel Aufhebens darum machen würde, klaut Ana den luxuriösen Mietwagen der Filmproduktionsfirma und fährt zu den Klängen von The Raptures »In the Grace of Your Love« zurück ins heimische Straßburg. Man beginnt zu ahnen: Diese Hauptfigur ist noch für ein paar Überraschungen gut.
Der Rest von »Baden Baden« spielt sich nun also im filmgeschichtlich erst erstaunlich selten gewürdigten Straßburg ab, und Lang inszeniert die Stadt mit viel Gefühl für Bildsprache und Komposition. Gekonnt mischen sie und ihre Kamerafrau Fiona Braillon spröde Alltäglichkeit mit einer milden Form des magischen Realismus: In einer Szene, in der Ana eine hässliche Baumarktfiliale aufsucht, konstruiert Lang beispielsweise eine eindrückliche Einstellung ihrer Protagonistin unter einer Reihe farbenfroher Duschköpfe. Immer wieder entstehen solche kleinen Momente, in denen bunte Sprengsel die eher ausgeblichene Farbpalette des Films durchbrechen, ohne dass es dabei zu einer verkitschten Überhöhung kommt.
Dieses gewisse Understatement äußert sich auch in dem leisen, aber unbestreitbar effektiven Humor des Films. Der zeigt sich besonders in den Dialogen zwischen Ana und ihrer knarzigen Oma sowie in den linkischen Interaktionen zwischen ihr und dem Baumarktangestellten Grégoire. Hier liegt auch der Ursprung des sonst eher zusammenhanglosen Filmtitels: In Ermangelung eines konkreten Plans für ihr Leben entschließt sich Ana nämlich zunächst dazu, ihrer geliebten Oma mit Grégoires Hilfe eine neue Badewanne zu installieren – selbstverständlich, ohne über irgendwelche handwerklichen Vorkenntnisse zu verfügen. Dabei kommt es gar zu lupenreinem, aber wohldosiertem Slapstick.
»Baden Baden« ist zum Glück keine jener plumpen Wohlfühlkomödien, die in Frankreich derzeit wie am Fließband produziert werden. Lang nimmt die Probleme ihrer Figuren ernst und benutzt sie weder als bloße Folien für den nächsten Gag noch als Aufhänger für einen biederen Kommentar über die sogenannte Millenial-Generation. Im Gegenteil bremst Lang ausgelassene Szenen oft mit obskuren oder ernüchternden Akzenten aus – etwa wenn Ana schließlich die Rechnung für ihren unbedarften Autodiebstahl präsentiert bekommt oder wenn die Bilder einer Videoinstallation jäh den Erzählfluss durchbrechen. Nicht zuletzt dank der Cutterin Sophie Vercruysse wirken diese tonalen Übergänge stets elegant, nie gezwungen.
Das ist alles sehr unaufgeregt, man könnte auch behaupten: belanglos, eben das Liebes- und Alltagsleben einer Mittzwanzigerin, die keine große Lust auf ein stringentes Leben verspürt, aber auch keinen Grund zur Rebellion hat. Nicht einmal einen geradlinigen Plot verfolgt der Film: Es gibt keinen klassischen Spannungsbogen, vieles von Anas Vorgeschichte bleibt offen. Darin aber liegt die Stärke von »Baden Baden«. Es gelingt der Regisseurin, eine Geschichte zu erzählen, die sich zu keinem Zeitpunkt auf Drama oder Komödie festnageln lässt und so ihrer famosen Hauptdarstellerin Raum zur Entwicklung einer unangepassten, humoristischen Performance gibt. »Lustige Frauen« abseits von hysterisch-überdrehten »Bridesmaids« oder eben den niedlich-naiven Amélie-Epigonen zu inszenieren, ist in der derzeitigen Filmlandschaft eine nicht zu unterschätzende Errungenschaft. Wer fällt einem da heute außer den Amerikanerinnen Greta Gerwig und Lena Dunham schon noch ein?
Auch die Ziellosigkeit des Films und seiner zentralen Figur demonstriert eine wohltuende Verweigerungshaltung gegenüber der oft üblichen Auflösung komödiantischer Konflikte durch beruflichen Erfolg, Ehe oder Schwangerschaft der weiblichen Hauptfigur. All diese Auswege deutet »Baden Baden« an und verpasst ihnen nacheinander Absagen – und das nicht immer auf komische, sondern durchaus auch auf bittere Art und Weise. Gleichzeitig trägt der Film dieses Spiel mit Gendernormen nicht angestrengt vor sich her; Rachel Langs intelligente Regie und die lockere, elliptische Struktur ihres Films könnten kaum mehr Lässigkeit ausstrahlen. Man darf also gespannt sein, was Lang nach diesem inspirierten Spielfilmdebüt als nächstes vorlegt. Angesichts der Tatsache, dass sie Salomé Richard bereits in zwei früheren Kurzfilmen in der Rolle der Ana inszeniert hat, mag man gar auf eine andauernde Kollaboration wie zwischen François Truffaut und seinem Stammschausspieler Jean-Pierre Léaud spekulieren.
Tim Lindemann