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Eine eiserne Kassette

20.11.2019 13:03

Regie: Nils Olger; Österreich 2018 (sixpackfilm/bittersweet films); 102 Minuten; seit 31. Oktober 2019 im Kino

26.11. Wien, 19 Uhr, Depot, Breite Gasse 3: Filmvorführung und anschießendes Gespräch mit Nils Olger

 

Nils Olger hat nun ein anderes Bild von seinem Großvater, ein „negatives“. Mit dem Dokumentarfilm „Eine eiserne Kassette“ deckt der Regisseur die Nazi-Vergangenheit seines Opas auf. „Er hat seinen Beitrag geleistet und nie Verantwortung übernommen. So werde ich ihn in Erinnerung behalten“, resümiert Olger am Ende. Es ist der erste Langfilm des in Wien lebenden Künstlers und Filmschaffenden und zugleich das Debüt des noch jungen politischen Verleihs Bittersweet - ein gelungener Start beiderseits.

Olaf Jürgenssen, der Großvater von Olger, hat ihm viele nette Anekdoten über seine Vergangenheit erzählt, wie er seine Frau traf und wie sie geheiratet haben - aber nie ein Wort über seine NS-Vergangenheit. Erst kurz vor seinem Tod 2012 konnte der 93jährige sich überwinden, sein Schweigen zu brechen, wenn auch sehr zurückhaltend und mit Aussparungen, wie sich später herausstellt. Zu diesem Zeitpunkt kannte Olger nur Gerüchte über seinen Großvater, was ihn neugierig machte und zu diesem Film motivierte.

Erst durch die eiserne Kassette, die Olger von seiner Großmutter nach Jürgenssens Tod erhielt, kamen die düsteren NS-Geheimnisse ans Licht. Neben Ausweisen und Briefen fanden sich dort elf Filmrollen mit circa 400 Negativen aus den letzten zwei Kriegsjahren. Jürgenssen war nämlich ein leidenschaftlicher Fotograf. Anhand dieser Bilder erzählt Olger die Geschichte seines Großvaters nach. Zu den Hintergründen recherchiert er akribisch zweieinhalb Jahre, reist an die Entstehungsorte der Bilder und spricht mit Zeitzeug*innen sowie Historiker*innen.

Der Film zeigt eine Auswahl der Negative chronologisch, verbunden mit Ortsaufnahmen aus der heutigen Zeit und Statements seiner Großeltern sowie von Überlebenden und Nachkommen der Kriegsopfer.  Zudem klärt der Regisseur aus dem Off fundiert und präzise über die Geschehnisse auf. Als Sanitäter war Jürgenssen in der Aufklärungsabteilung der Waffen-SS, die zunächst in Ungarn stationiert war, dann in Italien und schließlich, zurückgedrängt von den Alliierten, in Österreich. Auf den ersten Blick sehen seine Fotos friedlich aus, nahezu banal. Sie zeigen vor allem Landschaft, italienische Dörfer oder posierende SS-Soldaten mit einem stolzen Lächeln. Doch Olger guckt genauer hin, und das Banale wirkt auf einmal böse. Die 16. SS-Division hinterließ eine Spur des Grauens: Vergewaltigungen, Folter und fürchterliche Massaker an italienischen Partisan*innen mit über 1.000 Opfern.

Jürgenssen will davon nichts gewusst haben, er habe ja bloß seinen Auftrag als Sanitäter erfüllt. Tatsächlich hat er sich, wie sein Enkel am Schluss aufklart, 1939 freiwillig zur Luftwaffe gemeldet und sich von seinem Medizinstudium freistellen lassen, schließlich wurde er zur Waffen-SS berufen. Außerdem hat er die kompletten Nazi-Strukturen durchlaufen: Hitlerjugend, NSDAP und SS (als sie noch verboten waren), Nationalsozialistischer Deutscher Studentenverbund sowie Deutschnationale Burschenschaft. Nach dem Krieg wurde er „entnazifiziert“, schwieg, und startete eine erfolgreiche Karriere als Kinderarzt.

Der Offizier Walter Reder, der die SS-Division von Jürgenssen angeführt hatte, wurde zu lebenslänglicher Haft wegen schlimmster Kriegsverbrechen deutscher Truppen in Italien verurteilt. 1985 wurde er entlassen und vom damaligen FPÖ-Verteidigungsminister Friedhelm Frischenschlager per Handschlag am Flughafen in Empfang genommen. Das löste einen Skandal aus uns sagt viel über die Verdrängung der NS-Zeit in Österreich aus. Als Reder 1991 starb, war seine Trauerfeier gut besucht von ehemaligen SS-Soldaten. 2009 kam es zu einem erneuten Prozess, bei dem alte Kameraden von Jürgenssen zu lebenslanger Haft verurteilt wurden. Er selbst blieb verschont.

Seine Frau erklärt: „Nach dem Krieg hat sich jeder, der bisschen Butter im Kopf hatte, zurückgezogen, das ist doch klar.“ Auch sie zeigt weder Schuld noch Verantwortung und bringt sogar Verständnis für ihren SS-Mann auf. So wollen beide auch nichts von der Vergasung der Jüdinnen und Juden mitbekommen haben. Jürgenssen bezeichnet das zwar als fürchterlich, aber relativiert zugleich: „Was heute getan wird, ist ja genauso schirch.“ Das lässt Olger unkommentiert stehen. An solchen Stellen wünscht man sich eine deutlichere Distanzierung.

Obwohl es ein sehr persönlicher Film ist, bleibt Olger überwiegend sachlich. Im Laufe des Films füttert er den Zuschauer mit immer mehr Informationen, so dass man sich ein eigenes Urteil über Jürgenssen bilden kann. Erst am Schluss rechnet der Regisseur selbst mit seinem Opa ab und tut seine Enttäuschung kund.

Wer schweigt, hat meistens etwas zu verbergen, wie dieser exemplarische  Film über vermeintliche Entnazifizierung und Verdrängung der NS-Geschichte eindrücklich zeigt. Das gilt besonders für jene Tätergeneration, die nun die totgeschwiegene NS-Vergangenheit mit ins Grab nimmt. Insofern ist „Die eiserne Kassette“ auch ein Appell an andere in der Familie nachzubohren und das Schweigen zu brechen, solange es noch möglich ist.

Lukas Theinert

 

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