02.01.2017 16:26
Regie: Xavier Dolan; mit Gaspard Ulliel, Marion Cotillard; Kanada/Frankreich 2016 (Weltkino); 99 Minuten; seit 29. Dezember im Kino
Familien, das ist längst bekannt, können die Wurzel des Grauens sein. Schließlich findet dort die frühe Prägung des Kindes statt, mit aller individuell gefärbten und zugleich gesellschaftlich institutionalisierten Brutalität. Viele Filme- und Theatermacher haben sich dafür interessiert, die Zurichtung des Kinds im Erwachsenenalter ans Tageslicht zu holen und – vorzugsweise bei einem Familientreffen – das Konstrukt aus Liebe und Zwang, Narzissmus und Zucht implodieren zu lassen.
Xavier Dolan, der mit dem semiautobiografischen »Ich habe meine Mutter getötet« so hoffnungsvoll begonnen und zuletzt mit »Mommy« ebenso radikal weitergemacht hatte, hat nun ein Stück des französischen Dramatikers Jean-Luc Lagarce adaptiert. Lagarce starb 1995 an Aids. Auch sein Protagonist Louis ist an Aids erkrankt und rechnet mit seinem baldigen Tod. Diesen will er seiner Familie ankündigen. Zwölf Jahre hat er Mutter, Schwester und Bruder nicht mehr gesehen, nun reist er zurück ins Elternhaus. Dass es dort zum Knall kommen wird, ist eigentlich ausgemachte Sache.
Für sein Familiendrama hat Dolan ganz wunderbare Schauspieler versammelt, die in anderen Rollen glänzten, brillierten, überwältigten. Auch hier geben sie ihr Bestes und müssen doch blass bleiben. Gaspard Ulliel, der gerade in »Die Tänzerin« als melancholischer Adeliger berührte, tapert als Louis wie ein devoter Jesus herum, bereit, sich zu opfern. Eigentlich darf er nur drei Regungen zeigen: stille Trauer, Enttäuschung und unterdrückten Ärger. Auch seine Kollegen winden sich durch ein diffuses Gefühlsleben. Was sie antreibt, bleibt verborgen, ja, man kann fast den Eindruck gewinnen, dass sie eigentlich gar nichts antreibt. So tiefsinnig und bedeutungsschwanger die Ausgangssituation wirken mag, so oberflächlich wird sie verhandelt. Das ewige Lauern, Zögern und unvermittelte, sinnentleerte Explodieren der Figuren vermittelt keine Analyse familiärer Zusammenhänge. Es verpufft im Nichts und foltert den Zuschauer über eine Stunde lang mit Leerlauf. Die Kamera saugt sich verzweifelt an den Gesichtern fest, in der Hoffnung, irgendeine tiefere Bedeutung herbeizuzaubern. Durch diese Statik aber schleppt sich das Drama nur noch langsamer voran. Filmisch dringlich wird es nie. Vielleicht liegen Dolan Fremdstoffe einfach nicht. Es ist ein Theaterstück, das offenbart sich in jeder einzelnen Sekunde. Gut besetzt und inszeniert, mag es auf der Bühne noch halbwegs wirken. Für die Leinwand oberflächlich adaptiert und passagenweise mit Kitschmusik versehen, lässt es den Zuschauer mit dem Gefühl zurück, einem Blender auf den Leim gegangen zu sein.
Katrin Hildebrand