27.10.2016 14:33
Regie: Eren Önsöz; mit Elisabeth Weber-Belling, Enver Hirsch; Deutschland 2016 (Mindjazz); 92 Minuten; seit 27. Oktober im Kino
Dass in Deutschland viele türkische Migranten leben, weiß jedes Kind. Dass in der Türkei einst auch einige deutschsprachige Menschen eine neue Heimat fanden, ist fast vergessen. Um die tausend waren es, die ab 1933 in den Staat Atatürks flohen. Diesem ging es, wie so oft, um qualifizierte Arbeitskräfte. Doch noch andere Faktoren spielten hinein: der für die Türkei avisierte Laizismus, die Verwestlichung der Gesellschaft und das Primat der Wissenschaft.
Viele jüdische Forscher, renommierte Künstler und andere gefragte Köpfe aus Deutschland gelangten durch diesen Zufall der Geschichte ins türkische Exil. Atatürk wollte die Universitäten modernisieren, während die Nazis ihre Universitäten »arisierten «. Das trieb verfolgte Größen wie den als »entartet« diffamierten Künstler Rudolf Belling, den jüdischen Pathologen Philipp Schwartz, den Botaniker Alfred Heilbronn, den Juristen Ernst Eduard Hirsch und den Chemiker Otto Gerngross nach Istanbul und Ankara. Ungefähr 80 hochdekorierte deutsche Profs halfen damals mit, eine neue Türkei aufzubauen.
Ihre Kinder und Enkel kommen nun in Eren Önsöz’ »Haymatloz« zu Wort. Es geht um deutsch-türkische Identitäten, das Aufwachsen zwischen zwei Welten und die unendliche Dankbarkeit, dass die Türkei Menschen vor dem sicheren Tod in Deutschland bewahrte. All das erzählt Önsöz unterfüttert mit teils berauschend schönen Bildern aus Istanbul (Ankara hat im Film wenig dagegenzusetzen) sowie unzähligen Interviewsequenzen mit liebenswerten, aufgeklärten Menschen. Freilich ist es der Fluch einer jeden Dokumentation, die sich keinem echten Reißer widmet, dass sie ins Trudeln gerät. Einige Passagen dienen zwar der Vollständigkeit, nicht aber der politischen Brisanz. Diese offenbart sich nicht nur an der Geschichte der NS-Verfolgten, sondern auch in jenen Momenten, wo deren Nachfahren an die Orte ihrer Kindheit zurückkehren, diese mit ihrem gegenwärtigen Zustand vergleichen und das politischsoziale Jetzt in Augenschein nehmen.
Im Gedächtnis bleiben vor allem zwei Momente: das Gespräch mit türkischen Studenten über ihren Protest gegen das aktuelle Regime und die Diskussion mit einer erfahrenen Feministin über die nicht gerade zum Vorteil veränderte Rolle der Frau. Ein bisschen mehr davon und ein bisschen mehr Reflexion darüber, dass der moderne Nationalstaat oft nur die Eliten rettet, niemals aber das »arme Gschwerl«, hätten »Haymatloz« noch etwas aufgepeppt.
Katrin Hildebrand