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Leviathan

24.03.2015 13:57

Regie: Andrey Zvyagintsev; mit Roman Madyanov, Elena Lyadova; Russland 2014 (Wild Bunch); 140 Minuten; ab 12. März im Kino

 

Auf einem lustigen Jagdausflug in karges arktisches Gelände wird auf leere Flaschen geschossen, man hat aber auch einen Stapel Politikerporträts als Zielscheiben dabei: Breschnew, Lenin, Gorbatschow. In dieser Reihenfolge werden die Rahmen aufgeschlagen, wobei für zeitgenössische Herrscher gilt: »Da ist der historische Abstand nicht groß genug, lass die noch etwas reifen an der Wand.«

Das Russland in Andrey Zvyagintsevs »Leviathan« deckt sich mit geläufigen Vorstellungen und lieben Erwartungen. Es wird Wodka aus randvollen Wassergläsern getrunken, viel geraucht, die Menschen sind schroff oder »seelenvoll«, einsilbig und mäßig humorvoll, manchmal schlagen sie auch Kinder. Vor allem geht es in diesem Film aber um das unverhohlene Ausnutzen neurussischer Macht für private Zwecke. Die Gesetze werden nur zum Nachteil der Benachteiligten ausgelegt, wobei das hier vorgeführte Machtprinzip von der Spitze her ausstrahlt, von Klerus, Gerichtsbarkeit und Exekutive nach besten Kräften unterstützt.

Ein lokaler Vertreter dieses Prinzips ist der durchaus joviale, aber auch paranoide und gewaltbereite Bürgermeister, der den titelgebenden Leviathan mit einem bulligen Heinrich-George-Körper veranschaulicht. Wie den riesigen, agilen Meerbewohner sollte man auch diesen Mann möglichst nicht aus der Ruhe bringen. Jetzt hat der Amtsträger ein Auge auf eine im Grunde bescheidene, aber direkt an der Barentsee gelegene Immobilie geworfen, die dem Automechaniker Nikolay gehört. Um diesen Ort möglicherweise für einen eigenen Wohnsitz zu sichern, schiebt der Bürgermeister dessen touristische Entwicklungsmöglichkeit vor.

Durch diesen Konflikt der Interessen und die drohende Enteignung setzt sich Nikolays Unglück in Gang. Der eigentlich gutmütige und risikoscheue Mann will das Haus, in dem er aufgewachsen ist, nicht aufgeben, schon gar nicht unter Zwang; er muss sich also auf Gegenwehr einstellen. Sein Freund und Anwalt Dimitri unterstützt ihn bei Gericht, dort wird aber in rasend heruntergeleierten Worten zu seinen Ungunsten entschieden.

Der Mann muss nicht nur den drohenden Verlust seines Besitzes verkraften, er wird auch sonst hart geprüft. Am Ende wird er seine Gesundheit, Partnerin und Bewegungsfreiheit verlieren, letzteres, weil der Suizid der Frau eine Mordanklage nach sich zieht.

Sollen die Interessenkonflikte sowie der Filmtitel auf Thomas Hobbes verweisen, so wird in der Aufstapelung von Zumutungen die biblische Geschichte des Hiob, des Testobjekts Gottes, aufgerufen. Auch der büßt alle Besitztümer ein und trägt schwerste familiäre, soziale und körperliche Schäden davon. Und es kommt immer noch schlimmer. Selbst die Maden, die sich von seinem Fleisch ernähren, liegen in aufreibendem Dauerstreit.

Um solchen Kalamitäten darstellerischen Nachdruck zu verleihen, wären die drastischsten Horroreffekte gerade gut genug. Vielleicht ist auch die Fallhöhe der Figur von Bedeutung, im Alten Testament trifft es ja einen besonders Guten oder gerade den Besten unter den Guten. Man würde es sich aber zu einfach machen, der Hauptfigur dieses Films die Hiob-Fähigkeit abzusprechen, denn das Problem echter Ausweglosigkeit lässt sich auf jeder Ebene anwenden. Eher ist es so, dass die biblische Referenz durch Überdeutlichkeit ausgedünnt wirkt; Zvyagintsev erwähnt sie an einer Stelle direkt, verdoppelt damit aber nur, was man da sowieso schon wusste.

Sonst erzeugt er die Gravität des Mythischen aber mit verhaltenen Mitteln. Wehgeschrei ist nicht vernehmbar, die Affekte sind nach innen umgelenkt. Das verträgt sich mit der emotionalen Distanziertheit oder mimischen Lakonie, die hier die herausragenden Ausdrucksträger sind (von teils beeindruckenden Schauspielern wie Roman Madyanov, Anna Ukolova oder Aleksey Rozin), wird aber auch im Visuellen verankert. Zwar erfasst eine zur Frontalität neigende Kamera die nordrussische Landschaft durchaus von ihren sichtbaren Reizen her (das arktische Licht, winterlich verbleite Farben), nimmt dann aber immer wieder eine planetarische Perspektive ein. An Meer, Felsenküste und Bergrücken scheint die Ewigkeit zu kleben, die Bauten sehen aus wie dazwischengesetzt und nur vorläufig eingeschoben.

Obwohl Zvyagintsev einmal meinte, sein Film enthalte die Wahrheit des heutigen Tages, ist der überhistorische Anspruch unübersehbar. Dass das Zeitmaß hier auf größere Abschnitte kalibriert ist, unterstreichen auch die materiellen Überbleibsel von Gattungen oder Werken, also metaphorische Einsprengsel wie Skelette, Schiffsrümpfe oder Ruinen. In diesem Sinne wird am Ende auch das Holzhaus, das jahrzehntelang die Hülle für ein Menschenleben war, in wenigen Minuten niedergemacht und erweist sich dabei als erstaunlich zerbrechliches Gebilde (wie die Sowjetunion, der Sozialismus?).

Angesichts dieses Zuschnitts ist es beinahe erstaunlich, dass »Leviathan « überhaupt staatlich gefördert wurde. Wochen vor dem Kinostart löste der Film dann aber doch eine Kontroverse in Russland aus. Kirchenvertreter maulten, andere offiziöse Stellen beschuldigten den Regisseur des Opportunismus und der Selbstgerechtigkeit. Diese Art von Kritik würde dem Ansehen des Landes schaden, nur dem Geschmack der internationalen Filmfestivals zuarbeiten und daher mit Preisen überhäuft. Von weiterer Unterstützung aus Russland konnte Zvyagintsev also nicht ausgehen. Ein heikler Moment war der Vorschlag für den Auslands-Oscar, da im Gremium auch Nikita Mikhalkov saß, ein mit der staatlichen Macht eng verbundener Regisseur. Man hat sich dann aber doch auf diesen Film geeinigt.

Wenn es etwas gibt, das diese internationalen Festivals noch mehr lieben als die Binnenkritik an Verhältnissen, von denen man sich selbst nicht betroffen fühlt, dann ist es die Stilistik einer fahlen Lakonie. Auf die hält Russland aber ebensowenig ein Monopol wie auf die politische Sanktionierung von Willkür und Korruption. Dafür glaubt man dort anscheinend noch, und das ist von hier aus gesehen fast rührend, an eine gesellschaftliche Wirkung von künstlerischer Produktion. Manfred Hermes

 

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