29.10.2015 12:40
Regie: Jonas Carpignano; mit Koudous Seihon, Alassane Sy; Italien/ Frankreich u. a. 2015 (DCM); 110 Minuten; seit 15. Oktober im Kino
Im Januar 2010 sorgte die kalabrische Stadt Rosarno an der Südspitze Italiens international für Schlagzeilen, die in vielen Ländern Europas derzeit wieder sehr vertraut klingen. Halbstarke schossen mit Luftgewehren auf afrikanische Migranten, die anschließenden Proteste führten zu gewaltsamen Ausschreitungen, worauf sich die Einwohner der italienischen Kleinstadt zu einem Mob zusammenschlossen und die Afrikaner durch die Straßen jagten. Tausende Männer und Frauen mussten am Ende in Bussen an einem anderen Ort in Sicherheit gebracht werden. In Rosarno war es in der Vergangenheit wiederholt zu rassistischen Zwischenfällen gekommen, da viele Flüchtlinge aus Afrika auf ihrem Weg über das Mittelmeer in der kleinen Küstenstadt landen, die von der kalabrischen Mafia ’Ndrangheta kontrolliert wird. Zwei Jahre vor den Unruhen hatte bereits die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen die menschenunwürdigen Zustände auf den regionalen Orangenplantagen kritisiert, auf denen afrikanische Migranten für einen Hungerlohn arbeiten – von dem ein Großteil als Schutzgeld an die Mafia geht.
2012 drehte der afroamerikanische Regisseur Jonas Carpignano seinen ersten Film über die Lebensbedingungen der Flüchtlinge in Rosarno, nachdem er zwei Jahre in der afrikanischen Community gelebt hatte. In dem 19minütigen Drama »A Chjàna« spielt der burkinische Migrant Koudous Seihon den jungen Ayiva, der vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in der Küstenstadt landet. In Carpignanos Langfilmdebüt »Mediterranea «, das in Cannes dieses Jahr unter anderem für die Goldene Kamera nominiert war, kehrt Seihon in seiner Rolle zurück. »Mediterranea« basiert großenteils auf »A Chjàna«, erzählt aber auch die Vorgeschichte von Ayiva und seinem Freund Abas, die sich zu Fuß und in einem Motorboot auf den gefährlichen Weg nach Europa machen.
Carpignano beschreibt in einem größeren gesellschaftlichen Kontext, was er in seinem Kurzfilm nur punktuell anreißen konnte. Seihon erweist sich dabei wieder als charismatischer Darsteller, er spielt Ayiva als gewieften Entrepreneur, der sich seinen Status in der neuen Welt mit Verhandlungsgeschick erarbeitet. Auf dem Flüchtlingstreck, der die Männer über Algerien durch die Wüste nach Libyen führt, verdient er sich zusätzlich Geld mit dem Verkauf von Schuhen, im Gegenzug für einen Gefallen handelt er einen zweiten Platz im Rettungsboot für Abas aus. Ayiva ist ein Pragmatiker – eine seltene Figur in Filmen über die Flüchtlingskatastrophe, die Afrikaner meist zu hilflosen Subjekten degradieren.
Carpignano, dessen Filmprojekt das amerikanische Sundance- Institut gefördert hat, erzählt die Fluchtgeschichte sehr ökonomisch: Er springt von Etappe zu Etappe, ohne das Elend und die Gefahren der Reise zu verharmlosen. In der Sahara werden die Männer und Frauen von Banditen überfallen und ausgeraubt; die Überfahrt droht zu scheitern, weil der Kapitän abspringt. Auch die Verbindung in die Heimat, die für viele Immigranten emotionale Stabilität auf der Flucht bedeutet, gestaltet sich schwierig. Facebook und Skype sind unterwegs nur sporadisch verfügbar, in Burkino Faso warten Ayivas Schwester und seine siebenjährige Tochter auf eine Nachricht. Die Ankunft in Italien ist ernüchternd. Unter sklavenähnlichen Bedingungen müssen die Männer auf den Orangenplantagen schuften, ihre notdürftigen Unterkünfte bestehen aus Bretterverschlägen. Der Onkel, der mit seiner Frau schon eine Weile in Rosarno lebt, ist der einzige familiäre Rückhalt, auf den Ayiva zählen kann.
»Mediterranea« vermittelt ein etwas anderes Bild von den modernen Flüchtlingsbewegungen, als es die westlichen Medien derzeit tun. Die sozialen Medien gehören zum Alltag der jungen Afrikaner, die längst Teil der globalen Verwertungszusammenhänge sind. Die Klingeltöne ihrer Handys spielen dieselben Rihanna-Melodien wie die Handys der Jugendlichen in Berlin, London oder New York, die Sehnsüchte nach Konsumgütern bedient wie überall auf der Welt das Internet. Die Flucht ist für die jungen Afrikaner nicht zuletzt ein Ausweg aus der Rolle der passiven Beobachter dieser ungleichen Umverteilung. »Mediterranea« zeigt aber auch, dass sich die Motive innerhalb der scheinbar homogenen Migrantengruppen unterscheiden. Während Ayiva vor allem genug Geld verdienen möchte, um seiner Tochter und seiner Schwester ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen, will Abas am Wohlstand Europas möglichst sofort teilhaben. Im Internet sucht er nach Frauen, die ihm eine Aufenthaltsgenehmigung für Italien ermöglichen.
In den USA hat Carpignano unter anderem als Second-Unit-Regisseur an Benh Zeitlins »Beasts of the Southern Wild«, dem Versuch eines neuen, mythisch aufgeladenen, sozialethnografischen Arthouse- Kinos, mitgearbeitet. Auf solche nicht unproblematischen Stilisierungen verzichtet »Mediterranea« glücklicherweise, aber auch der häufige Vergleich mit dem italienischen Neorealismus ist als formale Referenz ungenau. Carpignano bedient sich Stilmittel beider Topoi (unscharfe Lichtflexionen, quasidokumentarische Plansequenzen, Laiendarsteller, elliptische Erzählstruktur), löst sich aber von den dominanten Erzählformen eines gegenwärtig opportunen »sozialen« Weltkinos.
Ayiva gewinnt das Vertrauen des Plantagenbesitzers Rocco und schließt Freundschaft mit dessen Tochter Marta, doch die Nähe zur Familie entpuppt sich als Illusion gesellschaftlicher Akzeptanz. Ein Straßenjunge, der sich mit kleinkriminellen Geschäften über Wasser hält und dabei vom überschaubaren Wirtschaftskreislauf durch die Migranten profitiert, fungiert als Sidekick und verkörpert gleichzeitig die ökonomischen Verhältnisse im italienischen Süden, die sich von der Situation der afrikanischen Migranten kaum unterscheiden. Diese Episoden verstrickt Carpignano zu einem losen Erzählfluss, der ein differenziertes Bild von den Lebensumständen der in Europa gestrandeten Afrikaner zeichnet. Die schwelende Fremdenfeindlichkeit registriert Carpignano in beiläufigen Konflikten auf nächtlichen Straßen oder in Clubs als subkutanes Problem dieses prekären Zusammenlebens. Umso drastischer brechen sich schließlich die rassistische Gewalt der einheimischen Bevölkerung und die aufgestaute Frustration der Migranten Bahn.
Andreas Busche