12.05.2016 10:00
Regie: Tomer Heymann, mit Ohad Naharin; Israel/Schweden/Deutschland/Niederlande 2015 (Farbfilm); 100 Minuten; ab 12. Mai im Kino
Ich steh auf Techno, Psytrance und Goa. Ich habe einmal technoide Tracks in einem Altenheim vorgespielt und um eine Einschätzung gebeten, wie man dazu tanzt. Es fiel vor allem das Wort Gezappel. Gar nicht mal so falsch. „Gezappel“ könnte einem auch in den Kopf kommen, wenn man das erste Mal den Tanzstil Gaga des israelischen Choreografen Ohad Naharin sieht. Doch die Doku „Mr. Gaga“ macht klar: Es ist viel mehr als das.
Ohad Naharin wurde 1952 im israelischen Kibuzz Misra geboren und wuchs in einer liebevollen, künstlerischen Familie auf. Er erzählt, dass seine Erinnerung ans Tanzen bis an seinen Lebensbeginn reicht. Und doch fing er erst recht spät professionell damit an. Als er 22 war, arrangierte seine Mum ein Vortanzen bei der israelischen Betshiva Dance Company, ohne dass er bis dato eine tänzerische Ausbildung vorweisen konnte. Bereits im ersten Jahr entdeckt ihn Martha Graham, die Ikone des Modern Dance, und lädt ihn nach New York ein, wo er kurze Zeit später gleichzeitig an der Julliard und der School of American Ballet studieren wird.
Tomer Heymanns Dokumentation entstand innerhalb der vergangenen sieben Jahre und kann sich sehen lassen. 100 wundervolle Minuten lang folgen Ausschnitte aus Naharins Produktionen auf Einblicke hinter die Kulissen der Batsheva Dance Company, die er seit 1990 als einer der herausragenden Choreografen der Welt leitet, und auf Interviews. Dazwischen sieht man Naharin in vergilbt wirkenden Videos als Kind mit seiner Oma tanzen oder akrobatisch auf einer Wiese turnen. Auch erfährt man, wie es zu diesem ominösen Gaga-Tanz kam: eine Reaktion auf eine Rückenverletzung. Es sei eine bedeutungsvolle Erfahrung gewesen, seinen Körper zu studieren. Der Gaga-Tanz fokussiert sich ganz auf die Sprache des Körpers: „Fühle nichts außer der Bewegung. Fühle die Verbindung zwischen deinem Fleisch und deinen Knochen und wie deine Knochen gleiten.“
„Mr. Gaga“ gewährt ungewöhnlich tiefe Einblicke in Naharins Vergangenheit und Gegenwart. Heymann erzählt sowohl von sehr persönlichen, schwierigen Ereignissen wie dem Tod von Naharins erster Frau oder von der Kollision von Beruflichem und Privatem (als Naharin seine schreiende Tochter aus zweiter Ehe mit der Batsehva-Tänzerin Eri Nakamura aus dem Studio bringen lassen muss) als auch von dem teilweise erstaunlich humorvollem Training. Der Regisseur unterschlägt dabei nicht, dass Naharin nicht immer ein einfacher Lehrer ist. So ruft er seinen Schülerinnen und Schülern schon mal mitten im Auftritt zu: „You are boring me!“ Und doch kehren alle wieder zu ihm zurück.
Nicht zuletzt verdeutlicht der israelische Regisseur Naharins komplizierte Beziehung zu Israel. Zum 50jährigen Jubiläum Israels verlangte man von Naharin, dass seine Tänzer/innen der „Jubilee Bells“-Performance statt Shorts und Unterhemden lange Kleidung tragen. Die Truppe streikte, der Auftritt wurde abgesagt, ein Solidarisierungsprotest folgte. Mit der Veränderung der israelischen Gesellschaft veränderte sich allerdings auch der Zuspruch für die Batsheva Dance Company. Nicht umsonst heißt Naharins aktuellste Arbeit „Last Work“. “Es könnte meine letzte Arbeit sein, denn wir leben in einem Land, infiziert von Rassismus, Hooliganismus, weitverbreiteter Ignoranz, Machtmissbrauch und Fanatismus ... Diese Regierung gefährdet nicht nur meine Arbeit, sondern das reale Überleben von uns allen in dem Land, das ich so sehr liebe.“
“Es waren besessene sieben Jahre”, sagt der Regisseur über seine Zeit mit Naharin, die er sich bereits seit seinem ersten Besuch einer Performance (“the best drugs I’d ever taken”) erhofft hat. Sein Film über Naharins Lebenswerk macht Lust zu tanzen und zu zappeln - egal, zu welcher Musik.
Leonie Ruhland