19.02.2016 12:25
Regie: Deniz Gamze Ergüven; mit Güneş Nezihe Şensoy, Doğa Zeynep Doğuşlu, Elit İşcan; Türkei/Frankreich/Deutschland 2015 (Weltkino Filmverleih); 93 Minuten; ab 25. Februar im Kino
„Ihr habt euch an den Schultern junger Männer selbstbefriedigt! Verdorben seid ihr! Wer war die Schlampe?“ Diese und andere verbale, aber auch physische Attacken müssen die fünf türkischen Schwestern Lale, Nur, Ece, Selma und Sonay über sich ergehen lassen, nachdem sie eine biedere, auf alte türkische Sitten pochende Nachbarin der Unzüchtigkeit beschuldigt hat.
Zu diesen Anschuldigungen geführt hat das Herumtollen im Meer mit männlichen Klassenkameraden, nachdem sie alle in die Sommerferien entlassen worden waren. Offensichtlich waren diese Spielereien alles andere als „verdorben“, zudem alle Beteiligten noch die komplette Schulgarnitur trugen, doch davon wollen Großmutter und Onkel, bei denen die Mädchen seit dem Tod ihrer Eltern leben, nichts wissen. Der Skandal ist da, die Erziehungsberechtigten ziehen Konsequenzen: Das Haus wird zum Gefängnis, die Mädchen dürfen nicht mehr in die Schule oder ans Meer, stattdessen lernen sie zu kochen und putzen und sich wie eine Hausfrau, um nicht zu sagen: Dienerin ihres künftigen Gatten zu benehmen. Alles, was auch nur den Hauch eines „untugendhaften“ Anscheins hat (Telefone, CDs, Schminke …), wird weggeschlossen. Schnell folgen erste Hochzeitsarrangements; einzig die älteste Sonay hat Glück, sie darf ihren Liebsten heiraten.
Aus Sicht der jüngsten Schwester Lale erzählt das mehrfach ausgezeichnete sowie nominierte (Oscar und Golden Globe 2016) Drama „Mustang“ von Mädchen, die ihre Freiheit lieben und es nicht einfach so hinnehmen, wenn sie ihnen genommen wird. Voller Schmerz, aber auch in vielen wunderschönen Szenen des Zusammenhalts spiegelt der Film die Bürde, als Frau in der patriarchalen Türkei zu leben, wider. Man möchte kotzen, wenn eine Radiostimme im Hintergrund erklärt, Frauen sollten gefügig sein, „keusch und nicht ständig in Gelächter verfallen“. Gleichzeitig muss man lächeln über ebendieses Gelächter, in das die drei Jüngsten beim Scherzen am Esstisch ausbrechen. Bis Ece, zu dieser Zeit die Älteste im Haus und bereits unfreiwillig verlobt, vom Tisch verwiesen wird und kurz darauf ein Schuss ertönt.
Der Film glänzt vor allem mit seiner Glanzlosigkeit. Die Einstellungen sind schlicht, die Schnitte direkt. Nur wenige Szenen sind mit Musik untermalt, es ist ein trockenes Setting, Emotionen werden lediglich aus der Situation heraus heraufbeschworen, nicht etwa durch pathetische Beigaben. Manchmal wird man ein bisschen überrannt von den vielen Ereignissen. Der Zeitrahmen könnte sich über Wochen, aber auch Monate und Jahre erstrecken, manche Längen des Films erklären sich aus dem hoffnungslosen Dahinvegetieren der Mädchen.
Mit James Dean vergleicht die Regisseurin Deniz Gamze Ergüven, die als Tochter eines türkischen Diplomaten in Ankara, den USA und Paris aufwuchs, die Hauptfiguren ihres ersten Kinofilms: „gleichzeitig rebellisch und schön“. Besonders kommt die Rebellin dabei in der Jüngsten zum Vorschein, Lale, hinreißend gespielt von Günes Sensoy, die all die furchtbaren Erfahrungen ihrer älteren Geschwister in sich aufzusaugen scheint, um Widerstandskraft zu sammeln.
„Mustang“ ist ein unfassbar trauriger Film und doch wunderschön. Unter strahlendem Sonnenschein schleicht sich die Tragödie immer weiter dahin. Dennoch sind es der unerschütterliche Freiheitsdrang und die Lebenslust der Schwestern, die am Ende zurückbleiben.
Leonie Ruhland