06.10.2016 16:40
Regie: Kai Wessel; mit Ivo Pietzker, Sebastian Koch; Deutschland 2016 (Studiocanal); 126 Minuten; seit 29. September im Kino
Ernst Lossa wurde vergiftet. 1944 in der bayerischen Anstalt Kaufbeuren-Irrsee – mit 14 Jahren. Grund: Er war Sohn eines fahrenden Händlers, eines Jenisch, und er war in der Hungeranstalt Kaufbeuren aufsässig. Er klaute Brot aus der Vorratskammer und versorgte Kinder, die verhungern sollten. Und er verbreitete unter seinesgleichen so etwas wie Hoffnung auf bessere Zeiten. Ernst Lossa war ein Held. Und der Film setzt ihm ein Denkmal.
Dabei stellt Regisseur Kai Wessel sein Licht unter den Scheffel. Lossas Schicksal ist dokumentarisch ausführlich belegt. Im Film ist davon aber nicht die Rede. Wessels Absicht war vielmehr, »einen lebendigen Film« zu machen – und keinen dokumentarischen. Daher vermeidet er beispielsweise, die Anstalt beim Namen zu nennen. Geht diese Strategie auf? Ich meine: ja. Der junge Held, widerständig und fürsorgend zugleich, bleibt im Fokus. Er berührt. Und es ging mir nicht anders: Ich litt und hoffte mit ihm.
»Nebel im August« ragt aus der Reihe der sogenannten Euthanasie-Filme heraus. Er beschäftigt sich vorrangig nicht mit den bösen Tätern, auch nicht mit dem Rassenwahn. Es fehlen in der detailgetreuen Ausstattung der Anstalten etwa Aufnahmen von Nazi-Symbolen wie Führerbild, Hakenkreuzen, Parteiabzeichen. Auch kommen Tätermotive nicht in den Vordergrund. Doch, ja, in einer großen Szene rühmt sich der Anstaltsleiter von Kaufbeuren-Irrsee als Erfinder der Hungerkost. Anstaltsessen reichlich, aber mit Suppen ohne Kalorien und Vitamine. Messungen ergeben, dass das Körpergewicht zuverlässig abnimmt. Das stößt im »Euthanasie«-Betrieb auf Zustimmung der Ärzteschaft. Besonders, wenn vorrangig diejenigen getötet werden, die arbeitsunfähig oder -willig sind und den Anstalten nichts als Kosten bringen.
Ergebnis: Der Film, weit davon entfernt, die Schuldigen zu fanatischen Nazis zu erklären, sieht die Schuld bei jenen, die ihre Entscheidungen nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip treffen. Damit sind wir beim Heute angelangt. »Nebel im August« führt umstandslos in die sehr gegenwärtige Diskussion über – Beispiel! – die pränatale Diagnostik.
Exkurs: In der Generalakte der Hamburger Gesundheitsbehörde der frühen vierziger Jahre vermerkte der Behördenleiter, die Abtransporte der Hamburger Kinder aus den Alsterdorfer Anstalten durch die »Euthanasie«-Busse der Kanzlei des Führers sollen fortan vermieden werden. »Wir machen es billiger.« Und so geschah es.
Dietrich Kuhlbrodt