01.08.2016 11:44
Regie: Gianfranco Rosi; Italien/Frankreich 2016 (Weltkino); seit 28. Juli im Kino
Nach der Pressevorführung von Gianfranco Rosis Wettbewerbsbeitrag »Seefeuer« auf der diesjährigen Berlinale wurde viel diskutiert: Der Dokumentarfilm über die italienische Insel Lampedusa und ihre geografische wie kulturelle Position als erster Außenposten der Festung Europa enthält drastische Bilder leidender und sterbender Flüchtlinge – darf er das? Die alte Frage nach dem fürs Dokumentarverständnis wichtigen Konzept des informed consent der gefilmten Akteure kam wieder auf: Konnten einige der in »Seefeuer« abgebildeten Personen der Verwendung ihres Bildes überhaupt in angemessener Weise zustimmen? Muss man als verantwortungsvoller Kameramann in solch extremen Momenten nicht die Kamera ausschalten? Ohne diesen Fragen ihre Relevanz absprechen zu wollen: In diesem Fall offenbaren sie schieres Unverständnis oder gar Heuchelei. Allerorten wird derzeit aus den Bildern Geflüchteter politisches Kapital geschlagen: Zumeist sollen sie aggressive Metaphern wie »Fluten«, »Anstürme« oder »Horden « illustrieren; nicht selten verkitschen sie Einzelschicksale. So behutsam kontextualisiert wie in »Seefeuer« werden sie hingegen nur sehr selten.
Der Film, den die von Meryl Streep geleitete Jury schließlich mit dem Goldenen Bären auszeichnete, nähert sich dem emotional wie ideologisch aufgeladenen Bild Lampedusas mit poetischer Ruhe und einem präzisen, empathischen Blick für die Ästhetik des Profanen. Denn Rosis Film ist zunächst einmal ein kommentarloses, fragmentarisches Porträt des Alltags der Inselbewohner, ihrer Beziehung zur Natur, ihrer Traditionen und Routinen. Das ist insofern ein erster Clou des Dokumentarfilmers Rosi, als er von Anfang an sensationslüsterne Erwartungen enttäuscht: Er verweigert sich einer dramatisierten Form der Gegenüberstellung der zwei Welten, die auf Lampedusa vermeintlich zusammenstoßen, indem er mit einem zwar visuell hervorragend komponierten, aber auch recht nüchtern anmutenden Rundgang über die Insel beginnt. Da sind die Fischer am Hafen, der Radiomoderator des kleinen Inselsenders, ein Taucher vor der Küste, eine alte Frau in ihrer bescheidenen Küche.
Zwei Protagonisten aber stechen hervor aus der unaufgeregt montierten Darstellung des Insellebens, und auch diese Fokussierung funktioniert perfekt: »Seefeuer« folgt den Abenteuern des Schuljungen Samuele, der mit einer Zwille bewaffnet herumstromert. Wir sehen ihn in der Schule, auf See mit seinem Onkel, einem Fischer, sowie beim geräuschintensiven Pasta-Schlürfen am heimischen Esstisch. Samuele ist unser hochsympathischer Guide durch Lampedusa: Er steht einerseits für das traditionsreiche Alltagsleben auf der Insel, das von der Katastrophe auf dem Mittelmeer nahezu unberührt bleibt; gleichzeitig ist er auch Teil einer Generation, die sich zwangsläufig mit den Neuankömmlingen auseinandersetzen müssen wird.
Die einzige Verbindung zwischen dem jungen Samuele und den Geflüchteten verkörpert der Arzt der Insel. Er behandelt den Jungen wegen einer Sehschwäche, erzählt in einer anderen Szene aber auch von seinen weniger gewöhnlichen Aufgaben: Er kümmert sich um die dehydrierten, abgemagerten Flüchtlinge und führt Tag für Tag zahllose Autopsien an Erwachsenen und Kindern durch, die die Fahrt übers Mittelmeer nicht überlebt haben. Ohne übermäßige Emotionalisierung macht Gianfranco Rosi in diesen Szenen eindrucksvoll deutlich, wie sehr den Arzt das Elend und Leid mitnimmt, mit dem er Tag für Tag unaufhörlich konfrontiert ist. Er ist der einzige Akteur, der im Film so etwas wie einen Kommentar zu der angespannten Situation auf der Insel abgibt.
Natürlich richtet der Filmemacher seine Kamera ebenso auf die direkt betroffenen Flüchtlinge selbst; wie könnte er in diesem Zusammenhang auch darauf verzichten? Man mag kritisieren, dass er seinen italienischen Protagonisten keine libyschen, syrischen oder sudanesischen gegenüberstellt. Die Geflüchteten sind eindeutig »das Andere« in »Seefeuer«: Nur einmal bekommen wir eine im mystischen Singsang vorgetragene Fluchtgeschichte zu hören (»The sea is not a place to pass by … The sea is not a road«), sonst bleiben die Männer und Frauen aus Afrika und dem Nahen Osten »anonym «. Die Kamera betrachtet sie bei der Ankunft auf See und an Land, bei medizinischen Untersuchungen und beim Fußballspiel im Zwischenlager. Im geografisch definierten Kontext des Filmkonzepts ergibt dieser Inszenierungsmodus aber eindeutig Sinn: Denn zum einen ist Lampedusa eben nur eine Zwischenstation für die Flüchtlinge, die danach in Lager auf dem Festland verteilt werden; zum zweiten unterstreicht der Regisseur so die Entfernung zwischen Europäern und Geflüchteten, die einander im Film vollständig fremd bleiben.
Schließlich gibt es noch die Sequenzen, in denen Rosi Rettungsmannschaften auf die kenternden Boote vor der Küste folgt. Es sind grauenhafte, schwer zu ertragene Aufnahmen. Nicht, weil sie die Bilder der Toten, der Verletzungen und der Verzweiflung der Überlebenden zum Selbstzweck ausbreiten würden – eher im Gegenteil, weil sie in fragmentarischer Art das Grauen nur kurz aufblitzen lassen und doch – so weit eben möglich – verständlicher machen als jede Nachrichtensendung. Dazu trägt auch Rosis statische sowie immer leicht enigmatische Schnitt- und Inszenierungsweise bei, die den Blick des Zuschauers nicht zu lenken, sondern zu öffnen sucht.
Daran ist nichts Voyeuristisches, nichts Sensationsheischendes. »Seefeuer« scheint vielmehr von dem ehrlichen Ansinnen beseelt, ohne moralisch belehrenden Kommentar und ohne die gängige Reportagestruktur zu unterstreichen, was bei all den polemischen und letztlich abstrakten Asyldiskussionen in Europa und dem Rest der Welt auf dem Spiel steht: grausames, sinnloses Sterben direkt vor den Toren Europas. Gerade durch seine visuelle Ambivalenz dürfte er große Wirkung erzielen.
Tim Lindemann