30.09.2016 14:18
Regie: Oliver Stone; mit Joseph Gordon-Levitt, Shailene Woodley; USA/Deutschland 2016 (Universum Film); 134 Minuten; seit 22. September im Kino
Niemand außer Oliver Stone mochte diese Story verfilmen, und das liegt nicht nur daran, dass niemand außer ihm es konnte. Es traute sich auch keiner, jedenfalls in Hollywood. Den großen Studios schien die Investition zu riskant, und deshalb musste Stone die geschätzt 50 Millionen Dollar Produktionskosten auf anderen Wegen zusammenkratzen, vor allem in Frankreich und Deutschland. Eingedenk der Vernarrtheit des US-Kinos in heroische Schinken der Sorte David gegen Goliath nimmt es wunder, dass sich nicht alle Player in Tinseltown um diesen Stoff, zumal er wahr ist, wie um ein Filetstück balgten. Oliver Stone macht sich folgenden Reim darauf: »Es heißt, wir hätten Meinungsfreiheit; aber Ideen werden gekauft, Gedanken kontrolliert und die Medien überwacht.«
Das klingt nach Paranoia, doch der echte Held, vom dem »Snowden« erzählt, hat vor drei Jahren der ganzen Menschheit Gründe geliefert, sich verfolgt zu fühlen. Wie der junge Programmierer die Courage fand, den größten Geheimdienst und die mächtigste Regierung der Welt zu seinen Feinden zu machen, welche Illusionen Edward Snowden verlieren, welche Einsichten er gewinnen musste, um sein altes, durchaus komfortables Leben freiwillig aufzugeben, das macht den größeren Teil des Films aus. Wir sehen Snowden, wie er mit 20 bei der US-Army anheuert, weil er es für seine Pflicht hält, gegen den Irak in den Krieg zu ziehen; wegen eines Unfalls endet seine Militärkarriere allerdings, lange bevor es an die Front geht. Wir sehen, wie er mit 22 von der CIA angeworben und zum IT-Spion ausgebildet wird. Sehen, wie er sich in die Performance-Künstlerin Lindsay Mills verliebt und von ihr Basislektionen in kritischem Denken erhält. Sehen, wie Snowden sich immer tiefer in die Verbrechen seiner Auftraggeber verstrickt; und wir begreifen, warum er seine Mitschuld eines Tages nicht mehr erträgt und das Glaubensbekenntnis der Dienste aufkündigt: »Geheimhaltung ist Sicherheit, und Sicherheit ist Sieg.«
Oliver Stone zeichnet die Entwicklung seiner Hauptfigur mit einer Zuneigung, ja, Verehrung nach, die etwas anrührend Altmodisches hat, etwas Anachronistisches wie Stone selber, der immer noch glaubt, mit seiner Arbeit etwas bewegen und den verfickten Staatskriminellen das Handwerk legen zu können. Die Sensibilität, auch Sentimentalität des Regisseurs verdankt sich einer gewissen Seelenverwandtschaft. Die Konversion des Patrioten, der an die USA glaubte wie an den lieben Gott, zu einem Renegaten, der sich vom System in seiner Vaterlandsliebe betrogen meint, ist ebenjene archetypische Legende, die Stone bereits in »Platoon« und »Geboren am 4. Juli« geschildert, in »Wall Street« und »The Doors« variiert und als Schlüsselmoment seiner eigenen Biografie benannt hat. Es lässt sich leicht vorstellen, wie gerührt der bald 70 Jahre alte Stone gewesen sein muss, als Snowden aus dem russischen Exil mit ihm Kontakt aufnahm, wie begeistert von der Vorstellung, mit Hilfe des Whistleblowers die Geschichte seines Lebens noch einmal illustrieren zu können. Oliver Stones 20. Spielfilm wirkt frischer und inspirierter als alles, was er seit 1995, seit »Nixon«, auf die Leinwand gestemmt hat.
Dazu trägt auch die nonlineare Dramaturgie der Montage bei: Die Szenen aus Snowdens Zeit bei Army und Agency wechseln sinnfällig ab mit Einstellungen aus den hektischen Tagen in Hongkong. Dort berichtete Snowden, frisch vor der NSA geflüchtet, im Juni 2013 dem Journalisten Glenn Greenwald und der Filmemacherin Laura Poitras, wie Geheimdienste die Daten der Welt observieren, wie sie unkontrolliert uns alle kontrollieren. Poitras’ »Citizenfour« behandelt Snowdens epochale Enthüllungen weit detaillierter als der Spielfilm. Weil Stone jedoch eine ziemlich ehrliche Haut ist, tut er gar nicht erst so, als könnte er sich in diesem Punkt mit der Dokumentation messen. Statt dessen baut er die Bilder von Snowdens Versteck in Hongkong bis in die Ausleuchtung und Farbgebung hinein so akribisch, das heißt klaustrophob, wie möglich Poitras’ Vorlage nach – eine Verbeugung vor »Citizenfour« ebenso wie vor dem Mut der Kollegin.
Natürlich kann ein persönliches Werk wie »Snowden« die Schwächen seines Schöpfers nicht verhehlen. Die Bildsymbolik ist überdeutlich wie fast immer bei Oliver Stone. Unablässig spiegelt der Held sich in Fenstern, Türen, Kameraobjektiven, am häufigsten in Computerdisplays. Sein Erweckungserlebnis sieht leider so aus: Ein virtueller, stark stilisierter Globus, über den endlose Datenströme fließen, aus denen die NSA ihr Wissen schöpft, wird zur Funkelpupille in Snowdens Auge. Sein finaler Abschied aus der Geheimdienststation auf Hawaii ist als Gang in göttlich waberndes Licht inszeniert, was beim Hingucken ein bisschen wehtut. Stone bemüht sich zwar, sein notorisches Pathos zu zügeln. Dennoch droht der Eifer, dem Publikum die Ungeheuerlichkeit des Ungeheuerlichen einzubleuen, manche Szenen zu verderben.
Peinlichen Momenten beugt zum Glück Shailene Woodley vor. Sie spielt Snowdens Freundin Lindsay Mills so herzwarm und bezaubernd, dass wir kaum hören, wie missraten etliche ihrer Dialogzeilen sind. Alle anderen pathetischen Anwandlungen des Regisseurs scheitern an Snowden-Darsteller Joseph Gordon-Levitt. Mit welcher Präzision er Gestik, Mimik, Macken und Tonfall des Originals, dessen Nüchternheit und Schüchternheit nicht bloß imitiert, sondern sich zu eigen macht, ist ein schauspielerisches Mirakel. Neben diesem schmächtigen Aufrechten nehmen sich die gottgleichen Superhelden, die Hollywood zur Zeit favorisiert, wie Schurken aus, wie Agenten der Unterdrückung.
Welch außerordentlicher Fall von Mimikry hier vorliegt, demonstriert die Schlussszene des Films spektakulär. Gordon-Levitt und seinem Regisseur gelingt eine Verwandlung von Kinorealität in Wirklichkeit, die es in dieser Art noch nicht gab, eine Pointe, die seitens des Verleihs und der Crew zu Recht wie ein Staatsgeheimnis gehütet wurde. Auch ich werde den Teufel tun, mehr als das zu verraten: Mir stiegen Tränen in die Augen.
Kay Sokolowsky