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Son of Saul

08.03.2016 11:48

Regie: László Nemes; mit Géza Röhrig, Sándor Zsótér; Ungarn/Frankreich 2015 (Sony); 107 Minuten; ab 10. März im Kino

»Um zu wissen, muss man sich ein Bild machen. Wir müssen versuchen, uns ein Bild zu machen, was im Sommer 1944 die Hölle von Auschwitz gewesen ist. Berufen wir uns nicht auf das Unvorstellbare« So beginnt Georges Didi-Hubermans Studie Bilder trotz allem von 2003 (deutsch 2007) – und tatsächlich kommt man nicht umhin, »Son of Saul«, das Spielfilmdebüt von László Nemes, für eine Verfilmung von Didi-Hubermans Thesen zu nehmen. Zumal sogar deren Ausgangspunkt – Fotografien, die Häftlinge der Sonderkommandos heimlich gemacht haben, um damit die Weltöffentlichkeit zu alarmieren – im Film an exponierter Stelle vorkommt.

Nemes, zuvor Regieassistent von Béla Tarr, hat sich das »Trotz allem« zu eigen gemacht und nach ästhetisch tragfähigen Strategien gesucht, das Sonderkommando bei seiner Drecksarbeit zu zeigen – auf der Höhe der notorischen Diskussion über die Ethik der Darstellbarkeit der Shoah. Die den Sonderkommandos zugeteilten Häftlinge – Juden und auch Nichtjuden – waren dazu verurteilt, gleichzeitig Täter, Zeugen und selbst Todgeweihte zu sein. Nemes wollte nach eigener Aussage keine heroische Survival-Geschichte erzählen, sondern einen konsequent konzentrierten Blick auf das »normale« Funktionieren innerhalb eines Vernichtungslagers wagen. Dass das Unvorstellbare beklemmend »gelingt«, liegt gerade daran, dass der Protagonist Saul Ausländer, eindrucksvoll ausdruckslos inmitten des Schreckens gespielt von Géza Röhrig, etwas Unerhörtes unternimmt, um einem jüdischen Jungen, der die Gaskammer überlebte und anschließend von einem deutschen Arzt getötet wurde, ein ordentliches Begräbnis zu verschaffen. Für das Kaddisch braucht es einen Rabbi – und insofern fungiert der »son of Saul« hier als McGuffin, denn Sauls Suche setzt die Kamera in Bewegung, die, immer ganz nah beim Protagonisten bleibend, Impressionen aus dem Lager auf der (unscharfen) Bild- und meisterlich komponierten Tonebene einfängt. Sauls Bewegungsfreiheit innerhalb des Lagers – vom Eingang der Gaskammern über die Krematorien bis ans Weichselufer, wo die Asche entsorgt wird – erscheint so forciert unaufgeregt wie seine menschliche Geste unter den Bedingungen »absoluter Macht« (Wolfgang Sofsky) absurd. Zumal sich Sauls Projekt, über das sich hinsichtlich der Conditio humana nachzudenken lohnt, spannungsvoll überschneidet mit den Vorbereitungen der Meuterei der Sonderkommandos am 7. Oktober 1944.

Ulrich Kriest

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