24.06.2019 11:56
Regie: László Nemes; mit Juli Jakab, Susanne Wuest; Ungarn/Frankreich 2018 (MFA); 142 Minuten; ab 13. Juni im Kino
Budapest 1913. Aus Triest kommend, bewirbt sich die junge Irisz Leiter um einen Job bei der glamourösen Hutmacherei Leiter. Das Namensdoppel ist kein Zufall, denn das Geschäft gehörte einst Irisz’ Eltern, die offenbar bei einem Brand ums Leben gekommen sind. Genaueres erfährt man nicht. Irisz selbst hat ihre Eltern nicht gekannt. Sie wuchs in einem Waisenhaus auf. Der Name Leiter ist gewissermaßen alles, was sie an Identität besitzt.
Oszkár Brill, der neue Besitzer des Geschäfts, verweigert ihr den Job und schickt sie stante pede zurück nach Triest. Doch Irisz ist bokkig, vielleicht auch verzweifelt, bleibt in Budapest und beginnt lange Erkundungsgänge durch die lichtdurchflutete, staubige, fremde Stadt, auf denen ihr immer wieder Ablehnung und offene Feindschaft entgegenschlagen. Wenngleich Irisz die Zusammenhänge kaum ansatzweise versteht, wird doch klar, dass der Name Leiter für viele aus unterschiedlichsten Gründen für weit mehr steht als für die neueste Hutmode. Mal heißt es: »Blut wird fließen!« Mal heißt es: »Du hast uns aufgeweckt!« Irisz erfährt, dass sie offenbar einen älteren Bruder – Kalman Leiter – hatte, der vor einigen Jahren einen Grafen ermordet hat und seither im Untergrund lebt. Jetzt, so hat es den Anschein, verbindet man Irisz’ überraschende Rückkehr nach Budapest mit Befürchtungen, dass auch ihr Bruder wieder auftauchen könnte. Mit welchen Absichten auch immer.
Man durfte auf den zweiten Spielfilm des ungarischen Filmemachers László Nemes gespannt sein, hatte doch sein Debüt »Son of Saul« (konkret 3/16) nicht nur ein Talent gezeigt, sich den ganz großen Themen mit spezifisch ästhetischen Lösungen zu nähern und via Immersion neue Facetten abzugewinnen. »Son of Saul« wagt sich in ein NS-Vernichtungslager und wählt dazu ein Erzählverfahren, das die Kamera so nah an den Protagonisten heranrückt, dass der Film vom Schrecken erzählen kann, ohne ihn explizit zu zeigen. Eine ethische Gratwanderung, gewiss, von Claude Lanzmann (»Shoah«) übrigens für gut befunden, über die man dennoch trefflich streiten kann. Für »Sunset« hat Nemes ein vergleichbares Verfahren gewählt, um eine mysteriöse Atmosphäre der Verstörung und der Desorientierung zu evozieren. Wider alle guten Ratschläge und mit fast schon komischem Effekt bleibt Irisz immer in Bewegung, die Handkamera folgt ihr in oft minutenlang ungeschnittenen Einstellungen auf dem Fuße und teilt dabei stets ihre eingeschränkte Perspektive auf das Geschehen. »Sunset« bietet immer wieder kunstvoll choreografierte Massenszenen, in denen es die bewegliche Handkameraarbeit von Mátyás Erdély erschwert, sich im Figurengewimmel und in den Sprachfetzen zu orientieren. Immer wieder stellt sich der Eindruck ein, man hätte mehr gesehen, wenn man sich auf ein Detail im Bildhintergrund konzentriert hätte, wenn man einen Dialog nicht hätte vorbeirauschen lassen. Als »Sunset« im vergangenen Herbst bei den Hofer Filmtagen im Original mit Untertiteln (die die Rätsel potenzieren!) lief, konnte man hinterher erleben, wie das Publikum sich erst einmal kommunizierend zu vergewissern versuchte, was es denn überhaupt gesehen hatte.
Erzähltheoretisch würde man wohl von einer Art personalen Erzählens sprechen, was natürlich ideal ist, wenn man versucht, ein Mysterium einzufangen, von dem die Protagonistin nicht einmal weiß, ob es existiert. Insofern fungiert Irisz in »Sunset« nicht als Detektivin, sondern als Medium eines detektivischen Films. Für die Protagonistin stellt sich die Handlung nicht als ein »Whodunnit« dar, sondern eher als ein »Whodidwhat«. Luc Boltanski hat einmal gesagt, die Haupttätigkeit des Detektivs bestehe darin, »die geschilderten Tatsachen in eine andere Sprache zu übersetzen, das heißt, die Realität neu zu bestimmen, dass das enthüllt wird, was der Verdächtige sich zu verstecken bemüht und was dennoch mit Händen zu greifen ist«. Indem Irisz in Bewegung bleibt und mit immer neuen Kontexten konfrontiert wird, die auf ihre Anwesenheit reagieren, kann der Film diese detektivische Tätigkeit ins Werk setzen. Auf interessante Weise korrespondiert die Tonspur widersprüchlich mit der Bild- ebene und liefert dem aufmerksamen Zuschauer zusätzliche und ergänzende, allerdings auch immer nur bruchstückhafte Informationen. Unheil liegt in der Luft, immer wieder kommt es zu unvermittelten Gewaltausbrüchen, in Schlössern feiern Geheimgesellschaften dekadente Feste, die nur dank Ausbeutung und Unterdrükkung möglich sind. Schließlich wird auch das Geheimnis gelüftet, warum bei Leiter bevorzugt schöne, junge Frauen beschäftigt sind. Fast schon im Sinne einer Imperialismustheorie erweist sich Budapest als Hinterhof der Wiener Hautevolee.
Folgerichtig endet »Sunset« in den Gräben des Ersten Weltkriegs, der die obsolete K.-u.-k.-Monarchie hinwegfegen wird. Nach einer langen, an Kubrick erinnernden Kamerafahrt blicken wir unver- mittelt in das Gesicht von Irisz, jetzt im Sanitätsdienst, deren Blick zu sagen scheint: »Da habt ihr’s, ihr hättet es kommen sehen können!« Fast könnte man »Sunset« für das Vorspiel der zivilisatorischen Katastrophe halten, die »Son of Saul« ausbuchstabiert. Der Regisseur selbst formulierte das im Interview wie folgt: »Wir leben in einer Welt, die nicht viel anders ist als die kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Es ist eine Welt, die so gut wie blind für die Kräfte der Zerstörung ist, die sie selbst aus ihrem Inneren heraus nährt.«
Ulrich Kriest