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The Irishman

09.12.2019 15:37

Regie: Martin Scorsese; mit Robert De Niro, Al Pacino; USA 2019 (Filmwelt/Netflix); 209 Minuten; seit 14. November im Kino und seit 27. November auf Netflix

Noch vor Erscheinen seines neuen Films »The Irishman« war Regisseur Martin Scorsese in zwei Debatten präsent, die das Filmjahr 2019 geprägt haben. Zum einen sorgte er mit seiner Kritik an den Superheldenfilmen des Marvel-Universums für emphatischen Wider- und Zuspruch; zum anderen fiel sein Name als Referenz der seltsamerweise zum Skandalfilm des Jahres erklärten Comicverfilmung »Joker« (konkret 11/19). Während sich in der ersten Diskussion hauptsächlich die Verteidiger von Disneys milliardenschwerer Herrenmenschenparade der Lächerlichkeit preisgaben, nahm die zweite eine moralische Tragweite an, wie sie einem Batman-Film bisher noch nie zuteil wurde. Nichts weniger als Anstiftung zum Mord warf man Todd Phillips mittelmäßigem »Joker« vor, der sich mithilfe seiner unsubtilen Zitate der rauhen 1970er Scorsese-Filme angeblich direkt an wütende Incel-Horden wende und sie zur Revolte auffordere.

Auch Scorsese wurde im Zusammenhang mit Filmen wie »Taxi Driver« und »Goodfellas« regelmäßig vorgeworfen, gewalttätige Männer mithilfe erstklassiger Inszenierung und lässiger Musikuntermalung zu glorifizieren. Gewissen Teilen seiner meist männlichen Fanbasis mögen fiktive Selbstjustiz-Psychopathen wie Travis Bickle und Mafiosi wie James Conway tatsächlich als Helden und Avatare dienen; ob das nun der Regisseur zu verantworten hat oder eher Auswuchs eines schon zuvor verkorksten Weltbilds des Zuschauers ist, mag jede/r selbst entscheiden.

Scorseses neuesten (und vielleicht letzten) Eintrag ins Gangstergenre kann man aber als kluge Replik auf diese Vorwürfe verstehen. Der 77jährige zeichnet hier in epischer Länge ein Leben im Dienst der Gewalt nach: vom ersten Waffengebrauch im Krieg bis zum routinemäßigen Auftragsmord am besten Freund – und noch weiter bis zum bitteren Ende, wenn vom vermeintlich glamourösen Mafia-Lifestyle rein gar nichts mehr übrig ist.       

»The Irishman« folgt der wahren Geschichte des Weltkriegsveteranen und Auftragskillers Frank »The Irishman« Sheeran über gut 60 Jahre hinweg – Robert De Niros markantes Gesicht wurde zu diesem Zweck streckenweise per CGI-Technik verjüngt, was nach anfänglicher Irritation nicht weiter negativ auffällt. Brennpunkt des Plots ist die (bis heute nicht endgültig aufgeklärte) Ermordung des populären Gewerkschaftsführers Jimmy Hoffa (Al Pacino) im Jahr 1975, in die Sheeran angeblich verwickelt war. Sein Boss Bufalino (Joe Pesci) hat Sheeran Hoffa, der mit der Mafia kungelt, ursprünglich als Bodyguard zur Seite gestellt; als sich der sture Gewerkschaftler aber nach einem Gefängnisaufenthalt von der Cosa Nostra zu emanzipieren versucht, stellt Bufalino Sheeran, der sich mit seinem Schützling angefreundet hat, vor vollendete Tatsachen: Hoffa muss verschwinden.

Für sein Spielfilmdebüt beim Streaming-Dienst Netflix hat Scorsese nicht nur seine alten New Yorker Kumpels De Niro, Pesci und Harvey Keitel zusammengetrommelt, die er mit seinem Frühwerk groß gemacht hat, sondern mit Pacino auch noch den allergrößten Star des gehobenen Gangsterfilms verpflichtet. Man kann das durchaus als trotzige Geste gegen die Studios verstehen: Nachdem sein letzter Film »Silence« spektakulär floppte, war man Scorsese in Hollywood nicht mehr so wohlgesonnen wie früher. Dass er seine lang erwartete, hochkarätig besetzte Rückkehr zum Gangstergenre nun ausgerechnet bei Netflix, dem größten Konkurrenten der traditionellen Studios, und zudem in dreieinhalbstündiger Länge zelebriert, spricht Bände.

Auf der einen Seite kann man »The Irishman« also durchaus als gelungene Fortsetzung der inoffiziellen Reihe betrachten, die einst mit »Mean Streets« begonnen und sich über die Jahrzehnte mit »Goodfellas« und »Casino« fortgesetzt hat: De Niro stand hier stets im Zentrum einer bunten Riege von Halbweltgestalten, die am Ende – wie es Scorseses Katholizismus gebietet – ihre verdiente Strafe für den Spaß am Gesetzesbruch bekamen. Auf der anderen Seite ist »The Irishman« von Beginn an viel düsterer, ernster und resignierter als diese Vorgänger. Wo die Gangster (und mit ihnen: wir) in den alten Filmen noch das kurzlebige Glück auf der falschen Seite des Gesetzes genießen konnten, ist das Morden hier kaltes, nicht einmal besonders lohnenswertes Geschäft. Wo die Protagonisten zuvor zumindest ein spektakuläres Ende fanden, werden hier Todesart und -datum von Nebenfiguren prosaisch als Untertitel eingeblendet. Der Protagonist endet müde, verbittert und allein im Altersheim. Glorifizierung sieht anders aus.

Scorsese untermauert mit »The Irishman« allerdings einen anderen, durchaus gerechtfertigten Vorwurf: sein beinahe demonstratives Desinteresse an weiblichen Figuren. Zwar stellt er einerseits Sheerans Tochter Peggy ins Zentrum der Handlung, ist sie doch die einzige, die das Wesen ihres Vaters frühzeitig erkennt und nach Hoffas Ermordung – Sheerans endgültiger moralischer Selbstaufgabe – jeden Kontakt mit ihm abbricht. Gleichzeitig lassen Scorsese und der Drehbuchautor Steve Zaillian keine einzige Szene zu, in der die hervorragende Anna Paquin ihre potentiell komplexe Rolle mit Leben füllen könnte. Nicht für eine Minute dieser dreieinhalb Stunden, so scheint es, soll der Fokus von den grantigen alten Männern und ihren brutalen Machenschaften weichen.

Die Einführung einer anderen Perspektive als der Sheerans hätte dem Film gutgetan. Zweifellos macht diese Konferenz der Filmgangster trotzdem großen Spaß, zumal Zaillian mit seiner Adaption der True-Crime-Vorlage großartig die kodifizierte Sprache der Verbrecher trifft, in der etwa die Phrase »ein Haus anstreichen« eine makabre Doppeldeutigkeit annimmt. Gut jedenfalls, dass man wieder über Scorsese diskutieren kann, ohne über Superhelden sprechen zu müssen.

Tim Lindemann

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