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The Look of Silence

01.10.2015 10:34

Regie: Joshua Oppenheimer/Anonymous; Dänemark/Indonesien u. a. 2014 (Koch Media); 103 Minuten; ab 1. Oktober im Kino

Sie nannten es die »Saison der Hackmesser«. »The Look of Silence« und sein Pendant »The Act of Killing« (2012) thematisieren die antikommunistischen Massaker 1965/66 in Indonesien. Während in Joshua Oppenheimers Dokumentation »The Act of Killing« die Täter ohne Scheu und Scham ihre Greueltaten nachspielen, geht es nun in »The Look of Silence« um die Situation der Opfer, die mitten unter ihnen leben müssen – eine notwendige Ergänzung.

Nach einem bis heute ungeklärten Putschversuch innerhalb des Militärs folterten und ermordeten Teile der Regierungstruppen und paramilitärische Todesschwadronen unter General Suharto damals die angeblich Schuldigen: etwa eine Million Menschen – Kommunisten, Intellektuelle, Gewerkschafter, Landlose und chinesischstämmige Bürger. Privatfehden und soziale und religiöse Konflikte konnten unter dem Deckmantel des Antikommunismus gleich mitbereinigt werden. 1966 löste Suharto den Diktator Sukarno ab. Die Verbrechen verkauft die offizielle indonesische Geschichtsschreibung als patriotische Heldentaten, schließlich hätten sie das Land vor dem Kommunismus bewahrt. Bis heute gibt es weder eine strafrechtliche Aufarbeitung noch unabhängige staatliche Untersuchungen. Eine verstörende Szene zeigt, wie Schülern eingebimst wird, Kommunisten seien grausam. In Suhartos Regierungszeit bis 1998 war jegliche Kritik an der offiziellen Version der Ereignisse verboten, erst seit etwa zehn Jahren wird darüber geforscht. Die damals Verfolgten sind bis heute stigmatisiert und werden diskriminiert. Die USA hießen die Verbrechen gut, weil die Opfer als Linke und Sympathisanten der kommunistischen Partei galten. Oppenheimer zeigt einen Ausschnitt einer US-Nachrichtensendung von 1967: Der Bürgermeister eines Dorfes, in dem ein Massaker stattfand, erklärt, die Kommunisten seien aus freien Stücken zu den Soldaten gekommen, sie hätten darum gebeten, getötet zu werden, da sie ihre Schuld eingesehen hätten. Der Reporter lässt das unwidersprochen stehen.

Im Vordergrund des Films stehen jedoch die Auswirkungen, die eine unbewältigte Vergangenheit auf die Opfer hat. Dabei konzentriert sich Oppenheimer auf eine Familie in Nordsumatra. »The Act of Killing« war noch nicht veröffentlicht, als er die Dreharbeiten zu »The Look of Silence« abschloss, sonst wären diese gar nicht möglich gewesen. Jetzt ist er in Indonesien nicht mehr willkommen.

Der Protagonist Adi Rukun, ein 44jähriger Optiker, sieht sich Ausschnitte aus dem ersten Film an. Sein Bruder Ramli war ein Opfer der Massaker. Adis schönes Gesicht bleibt unbewegt, aber in seinen Augen stehen Tränen, wenn er den Anführern eines Todeskommandos dabei zusieht, wie sie mit ihren Taten prahlen. Als nächstes sehen wir ihn diesen alten Männern Augengläser anpassen. Dabei stellt er ihnen Fragen. Inong erzählt, sie hätten das Blut ihrer Opfer getrunken, direkt nach dem Hieb mit der Machete mit einem Glas aufgefangen, das müsse man, um nicht verrückt zu werden. Adi fragt, wie er sich dabei gefühlt habe. »Blut ist süß und salzig zugleich«, erinnert sich Inong und fügt hinzu, Brüste sähen von innen aus wie Kokosnüsse, wenn man sie abschlage. Als Adi nachhakt, wirft Inong ihm vor, zu weit zu gehen und dauernd über Politik zu sprechen, und bricht das Gespräch ab. »Alles Propaganda«, sagt er, aber sein flackernder Blick und ein nervöser Tick verraten seine Unruhe. Andere drohen: »Das kann wieder passieren.« Alle Täter bestehen darauf: »The past ist the past«, und so soll es bleiben. Keiner zeigt Reue. Sie leben im Bewusstsein, das Richtige getan zu haben. Eigentlich stünde ihnen sogar eine Belohnung von den USA zu, die hätten sie gelehrt, Kommunisten zu hassen.

Die alten Männer gehen mit Adi zum Fluss und zeigen, wie sie Ramli getötet haben. Dabei werden sie richtig lebhaft und fröhlich, es wirkt auf sie wie ein Jungbrunnen. Es war ihre schönste Zeit, die Jugend. Massenmörder, wissen wir, sind ganz normale Menschen. Wie können sie solche Taten begehen? Das Muster wird im Film deutlich: Sie sind der Überzeugung, die anderen seien schuld, und sie haben die herrschende Meinung/die Herrschenden hinter sich. Folgerung: Es musste sein.

Diese schwer erträglichen Szenen kontrastieren mit poetischen Bildern: der Schönheit der Natur, dem Grün des Urwalds, dem Rot der Kleidung, der Zärtlichkeit, Geduld und Bestimmtheit, mit der Adis Mutter Rohani ihren Mann versorgt. Der ist blind, nur Haut und Knochen, die Zähne fielen ihm einer nach dem anderen aus nach dem Tod des Sohnes, erzählt sie. Sie selbst wäre gestorben, wenn nicht Adi zwei Jahre später geboren worden wäre. Sie trauert noch immer um Ramli, spricht jeden Tag mit ihm. Wie findet sie es, inmitten der Täter zu leben? Es sei schädlich. Sie wünscht den Tätern, ihren Kindern und Kindeskindern nur Schlechtes.

Konflikte, die nicht aufgearbeitet werden, können eine Gesellschaft über mehrere Generationen traumatisieren, sagt Oppenheimer, dessen Großeltern rechtzeitig aus Nazi-Deutschland geflohen sind. Obwohl er im Film nicht selbst zu sehen ist, ist er nicht nur Beobachter, sondern auch Akteur des Ganzen. Inwieweit, darüber lässt sich nur mutmaßen. Leider. Darf man als Dokumentarfilmer seine Protagonisten so der Vergangenheit aussetzen, sie eventuell sogar gefährden? Inwieweit beeinflusst man das Geschehen vor der Kamera? Darf man zeigen, wie der uralte Vater wie ein Baby gewaschen und gepudert wird, ohne seine Würde zu verletzen? Es geht, weil der Kamerablick zärtlich ist.

In der berührendsten Szene kriecht Adis Vater am Boden herum. Er findet die Tür nicht mehr, fühlt sich verlassen und weint wie ein Kind. Er hat sein Gedächtnis verloren, nur die Angst ist ihm geblieben. Für eine Heilung ist es zu spät. Das aber ist die Aufgabe, die Adi sich gestellt hat. Er hofft, dass die Täter ihre Schuld eingestehen. Das passiert jedoch nicht. Noch nicht.

Als ich den Film ein zweites Mal in der Heinrich-Böll-Stiftung sah, war ein Vertreter der indonesischen Botschaft zugegen. Er fand es arrogant, dass sich der Westen auf diese Weise in die inneren Angelegenheiten Indonesiens einmischt. Allerdings bereiten seit 2012 Opfer, Angehörige, Juristen, Wissenschaftler und Künstler aus Indonesien und dem Ausland ein Tribunal zur Aufarbeitung der Verbrechen vor. Es soll im November in Den Haag stattfinden.

Sabine Lueken

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