05.07.2019 12:25
2018 (Warner); 99 Minuten; seit 27. Juni im Kino
»Einfärbung macht noch keinen Farbfilm«, schrieb der Filmkritiker Roger Ebert 1988 über eine kolorierte Fassung des Hollywood-Klassikers »Casablanca«. Solche Kolorierungen seien bloß »traurige und abscheuliche Travestien von Schwarzweißfilmen, ihre Beleuchtung zerstört, ihre Atmosphären verschmutzt, ihre Stimmungen willkürlich verändert durch den Zusatz einer künstlichen Farbschicht, die kaum mehr als legalisierter Vandalismus ist«. Der heilige Zorn des Filmnerds über die vermeintliche Verunstaltung seines Lieblingsstreifens wirkt in der Zeit der omnipräsenten digitalen Collagen, Verfremdungen und Neufassungen ziemlich antiquiert.
Deutlich aktueller ist die Debatte um das 2018 gestartete Kunstprojekt »Faces of Auschwitz«: Im Rahmen dieser Aktion färbte die Künstlerin Marina Amaral im Auftrag der Gedenkstätte Fotografien von Lagerinsassen lebensecht ein. Gelingt ihr damit eine mediale Annäherung an die fotografierten Personen, oder verfremdet sie unzulässigerweise historische Dokumente? Macht sie die Zeugnisse von Mord und Vernichtung sogar zu einem visuellen Spektakel?
Ähnliche Fragen muss sich Peter Jackson zu seiner großangelegten Doku »They Shall Not Grow Old« gefallen lassen. Der neuseeländische Starregisseur hat für den Film umfangreiches, beeindruckendes Archivmaterial aus den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nachkolorieren und vertonen lassen – fürs Kino hat er sogar eine 3D-Fassung erstellt.
Wie er dieses Vorgehen rechtfertigt, macht schon der Trailer für das in Zusammenarbeit mit dem Londoner Imperial War Museum und der BBC entstandene Projekt deutlich: Für die in den Aufnahmen zu sehenden Soldaten fand das Kriegsgeschehen logischerweise in Farbe statt; die dem Stand der damaligen Technik geschuldete Schwarzweißästhetik ist demnach kein gewolltes filmisches Mittel, sondern eine Einschränkung, die heutigen Zuschauern ein immersives Nachempfinden der historischen Erfahrung erschwert. Eine Nachkolorierung umgeht dieser Logik zufolge die Distanzierung, die schwarzweiße Bilder beim Publikum unweigerlich hervorrufen. Tatsächlich ist die technische Aufarbeitung der Bilder aber das geringste Problem des Films.
Jackson konzentriert sich von Anfang an ausschließlich auf die affektive Erfahrung des Kriegs durch britische Soldaten und verzichtet auf jegliche Einordnung; die deutsche Aggression wird zwar kurz erwähnt, von da an spielen politische Zusammenhänge aber keine Rolle mehr. »They Shall Not Grow Old« beginnt mit zeitgenössischen Aufnahmen aus London; auf die Tonspur hat der Regisseur in rapider Abfolge Interviews mit Zeitzeugen gelegt, die berichten, wie sie vom Kriegsbeginn erfuhren und daraufhin in die Armee eintraten. Diese auditive Strategie behält Jackson über die gesamten 90 Minuten bei: Ohne Pause begleiten Berichte der namenlosen Veteranen (erst der Abspann listet die Namen auf) die Ausschnitte – »They Shall Not Grow Old« ist ein Film aus rein soldatischer Perspektive.
Das erste Drittel, das sich mit der allgemeinen Kriegsbegeisterung, der Truppenmobilisierung und dem Alltag des Soldatenlebens in England beschäftigt, präsentiert die dazugehörigen Bilder noch in Schwarzweiß und dem antiquierten quadratischen Format. Der entscheidende Moment dieser Doku ist daher der plötzliche, hochgradig effektive Übergang in Breitbild, Farbe, 3D und atmosphärisches Sounddesign. Diese technische Meisterleistung – die nach wenigen Minuten kaum mehr auffällt – ist so überzeugend, dass man den exakt gewählten Zeitpunkt der Transformation leicht übersieht.
Der Übergang vollzieht sich nämlich genau in dem Moment, als die Erzählungen der Zeitzeugen das Erreichen der Front beschreiben: Ohne großen Knalleffekt oder einen Hinweis verbreitert sich plötzlich der Ausschnitt, sickern Farben in die Bilder. Das steht in unangenehmem Einklang mit der einhelligen Stoßrichtung der Interviews, die den Krieg allesamt als sportliches Abenteuer, als heiligen Auftrag des Vaterlandes und vor allem als Mannbarkeitsprüfung präsentieren. Sicher, der allgegenwärtige Tod, der Gestank, der Schlamm, der ohrenbetäubende Schlachtlärm und sogar die prekären Sanitäranlagen finden hier alle Erwähnung; insgesamt aber überwiegt in den Kommentaren die Erinnerung an die Kameradschaft (selbst mit den deutschen Gefangenen), an den Kitzel der Gefahr und das nationale Zugehörigkeitsgefühl.
Schön und gut also der Versuch, das Grauen dieses Krieges in all seiner Körperlichkeit einer jungen Generation durch technische Aufarbeitung und ein den heutigen Sehgewohnheiten entsprechend schnelles Schnitttempo erfahrbar zu machen; dass der Regisseur zu diesem Zweck eine solch eindimensionale Huldigung des soldatischen Männerbundes heraufbeschwört oder zumindest unkommentiert reproduziert, ist allerdings mehr als entlarvend. Man nehme nur die gänzlich unkritische Illustration des vermeintlich lustigen Treibens in den Bordellen des französischen Frontgebiets, das bestimmt nicht für alle Beteiligten mit solch sehnlichen Erinnerungen verbunden war, wie sie hier zu hören sind. Ein Antikriegsfilm ist der von der internationalen Presse gefeierte »They Shall Not Grow Old« – dessen Titel einem patriotischen Gedicht von Laurence Binyon entnommen ist – jedenfalls sicher nicht.
Spätestens, als der Filmemacher gegen Ende der Doku in der Inszenierung einer dramatischen Schlacht plötzlich auf Illustrationen aus Propagandaheftchen, Standbilder blutüberströmter Körper und Spannungsmusik setzt, erinnert man sich an Jacksons Werdegang: In seine Filmografie, die hauptsächlich aus Splattern (»Braindead«) und Fantasy-Schlachtepen (»Der Herr der Ringe«, »Der Hobbit«) besteht, passt dieser Film auf den zweiten Blick ganz gut.
Tim Lindemann